Stiller und der Gartenzwerg - Main-Krimi
Kleingartenkolonie eingemietet. Alles wirkte auf ihn noch völlig improvisiert und ungeordnet. Jeder Rhythmus fehlte. Er kannte diese Stimmung sonst nur von den ersten Urlaubstagen an fremden Ferienorten. Der ungewohnte Tagesablauf, dazu das sonnige Maiwetter und der Freizeitradweg entlang der Aschaff – all das verstärkte Stillers Gefühl, gar nicht zu arbeiten, sondern einen freien Tag zu genießen. Er fragte sich, ob er überhaupt das Recht hatte, die Kollegen gleich zu einer Konferenz zusammenzutrommeln, deren Zeitpunkt ebenfalls von den eingespielten Regeln abwich.
Unsicher, als gehöre er nicht hierher, schlich er sich wenig später am Pförtner des Verlagshauses vorbei. Er vermied den gläsernen Aufzug und nahm die Treppe in den zweiten Stock. Dort stieß er prompt mit Sonja Wagner zusammen.
»Ja, der Herr Stiller«, rief sie belustigt. »Was führt Sie denn hierher? Ich denke, Sie brüten im Radieschenparadies Salatköpfe aus?«
Stillers schlechtes Gewissen wuchs. »Der Salat kommt auch ohne mich klar. Bei der Redaktion hab ich dagegen so meine Bedenken. Gibt’s noch Kaffee?«
»Eben erst aufgesetzt.« Sie deutete mit dem Kinn zur Kaffeeküche. »Sie müssen sich noch ein paar Minütchen gedulden.«
Stiller nutzte die paar Minütchen, um von Zimmer zu Zimmer zu gehen und mit den Kollegen zu reden. Das erschien ihm sinnvoller, als sie mit einer Konferenz aus der Arbeit zu reißen. Doch schon beim zweiten Besuch bereute er seinen Entschluss. Wohin er auch kam, als Erstes musste er ironische Bemerkungen über seine Recherchen in der Kleingartenkolonie über sich ergehen lassen: »Gibt’s was Neues von den Radieschen?« – »Na, hörst du schon das Gras wachsen?« – »Reden die Gartenzwerge nicht mehr mit dir, oder was treibt dich hierher?«
Er beschloss, die Spitzen einfach zu übergehen. Immerhin hielten die Kollegen den Laden auch ohne ihn am Laufen. Die Aufgaben waren verteilt, die Termine besetzt, die Lokalseiten geplant. Sie hatten ihm ausreichend Platz für seinen Artikel freigeschlagen.
Zufrieden steuerte er die Kaffeeküche an. Als er sah, dass sich vom anderen Ende des Gangs die Kulturchefin näherte, legte er noch einen Zahn zu – überflüssigerweise. Der Kaffee reichte diesmal für beide. Großzügig schenkte er ihr ein, was sie mit einem »Hallo, Maulwurf« quittierte.
Der Begriff irritierte Stiller. Er zog sich in sein Büro zurück, checkte die Mails und erkundigte sich bei den Pressestellen von Polizei und Staatsanwaltschaft, ob es Neues im Fall Strunke gab.
Gab es nicht. Stiller fasste daher seine eigenen Recherchen über Strunkes Ruf in der Kleingartenanlage und in seinem früheren Wohnviertel zusammen und erinnerte an die bereits bekannten Details des Mordfalls. Etwas dürftig, aber üblich. Mehr gab es eben nicht. Als Kleinschnitz’ Fotos im System auftauchten, wählte er zwei davon aus. Eines zeigte Strunkes Wohnhaus, von dem sich der Ermordete »Gerüchten zufolge« hatte trennen wollen. Auf dem anderen war ein Abschnitt der Aschaffauen zu sehen, in dem Ursula Strunke und Thomas Nadele zum Zeitpunkt des Mordes angeblich unterwegs gewesen waren.
Schließlich fuhr Stiller den Computer herunter und gab im Sekretariat Bescheid, dass er sich wieder den Salatköpfen zuwenden würde.
Sonja Wagner erwiderte, sie drücke ihm den grünen Daumen.
***
Der Legatplatz lag verschlafen in der Nachmittagssonne. Stiller stieß die Haustür auf. »Ich bin’s«, kündigte er sich an.
Ruth saß mit Charlotte und Jan am Tisch in der Essküche. Er blieb stehen und genoss das Bild. Seine selbstbewusste, schöne Frau. Die aufgeweckten Kinder, liebenswert, egal wie sehr sie ihn oft nervten. Er vermisste den größten, den Aussteiger, der durch die Welt tourte. Und er machte sich Vorwürfe, dass er dieses Bild nicht häufiger sah. Oft hatte er das Gefühl, sich wegen seines Berufs nicht genug um seine Familie zu kümmern.
Ruth begrüßte ihn, als könne sie Gedanken lesen: »Deine Idee mit dem Kleingarten gefällt mir immer besser. Wenn du dafür schon so früh nach Hause kommst … Du hast Glück, es gibt noch Kaffee.«
»Ich muss leider gleich wieder los«, erwiderte Stiller mit entschuldigendem Unterton. »Ich wollte nur deine Gartenfiguren und ein paar Klamotten mitnehmen. Brauchst du den Wagen?«
Ruth schüttelte ihre roten Locken.
»Was für ein Kleingarten?«, erkundigte sich Charlotte.
Stiller bedachte seine Tochter mit einem schiefen Blick. Hatte sie wirklich noch nichts davon
Weitere Kostenlose Bücher