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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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bin jetzt fast fünfzig, und ich liege morgens oft im Bett und überlege mir, wozu ich überhaupt aufstehen soll. Ich bin fett, die Haare fallen mir aus, meine Zähne sind kaputt. Ich bin nie eine Schönheit gewesen. Aber jetzt seh ich aus wie die letzte Schlampe. Kein Mann kann sich vorstellen, was das heißt.«
    »Ein Mann, der dich mal geliebt hat, vielleicht schon. Gib mir deine Nummer.« Sie machte es. »Kann eine Weile dauern.«
    Der Grashüpfer war oben angelangt und verschwand. Ich ging raus in die Sonne und setzte mich auf eine der mit Vogelscheiße versauten Bänke im Schatten der Bäume. Die Sonne ging allmählich unter, und der Abend brach an. Die Vergangenheit verzog sich allmählich, und mit ihr die Kröte.

2
    Ich klemmte mich dahinter und rief bei der Columbia University an, wurde ohne große Umstände mit den Anglizisten verbunden (immerhin hat man es an den meisten Universitäten mit Bürokraten zu tun, die sich aufspielen wie ein sowjetischer Apparatschik) und schließlich zum Rektor durchgestellt.
    »Ja?«, sagte er. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Mit einem Akzent, der teils nach Nordosten, teils nach Virginia klang. Eine Mischung aus Näseln und Singsang.
    Ich sagte ihm, wer ich war, und fragte, ob David sich wieder zurückgemeldet hätte.
    »Wir sind, um ehrlich zu sein, ziemlich besorgt, was David angeht, Mister Griffin. Er hätte sich letzte Woche wieder hier bei uns einfinden sollen, und außerdem wäre heute seine erste Vorlesung fällig gewesen. Aber nein, er hat sich nicht gemeldet. Bei Ihnen etwa auch nicht?«
    »Nein. Kein Wort. Wissen Sie vielleicht, ob er mit jemand näher befreundet war, dem er vielleicht eine Ansichtskarte geschrieben haben könnte oder einen Brief?«
    »Na ja, wir mögen ihn natürlich alle sehr. Sind ungeheuer beeindruckt von ihm und seiner Arbeit, das versteht sich wohl von selbst. Aber Freunde, nein. Dave ist nicht besonders gesellig, wenn Sie wissen, was ich meine. Hält sich eher zurück und denkt sich sein Teil. Aber Moment, mir fällt da ein, dass er ziemlich oft mit einer der Bibliothekarinnen zusammen gewesen ist, mit Miss Porter, die für unsere Kostbarkeiten zuständig ist. Nicht dass er etwas mit ihr gehabt hätte, damit wir uns recht verstehen, rein kollegial. Soll ich Sie durchstellen? Miss Porter müsste im Dienst sein.«
    »Wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«
    »Keineswegs, es nada . Ich lese Ihre Werke übrigens mit großer Begeisterung. Wir haben sie sogar durchgenommen – in einem Seminar über den proletarischen Roman, einem Seminar, das ziemlich starken Zuspruch fand.«
    »Besten Dank. Ich war immer der Meinung, das wäre reine Unterhaltung.«
    »Aha. Und genau das ist es auch, eindeutig. Aber darüber hinaus ist es doch auch ein bisschen mehr als reine Unterhaltung – nicht?«
    »Kann schon sein.«
    »So ist es recht – die Kritiker raten lassen, was? Bitte sehr, ich stelle Sie durch, zu unseren Kostbarkeiten.«
    Ich landete bei einer vertrottelten Gehilfin, die sich aufspielte wie eine angehende Assistentin, und hatte dann endlich Miss Porter an der Strippe, die mir sagte, dass ich sie bitte mit Alison anreden sollte, mit einem l . Ihrem Tonfall nach zu schließen machte das anscheinend niemand. Ich erklärte ihr, was ich wollte.
    »Ich dachte, er hat Ihnen vielleicht eine Karte geschrieben oder einen Brief. Wir wissen nicht mal, ob er überhaupt schon wieder in den Staaten ist«, sagte ich.
    »Na ja«, sagte sie. »Er hat mir fast jede Woche geschrieben. Wir hatten so viel miteinander gemein, wissen Sie. Ich bin sehr frankophil, und er hat mir immer geschrieben, was er gerade wieder entdeckt hat, wen er alles kennengelernt hat, was für seltene Bücher und Manuskripte er da drüben in Frankreich gesehen hat. Ich habe mich immer so auf seine Briefe gefreut.«
    »Wann haben Sie zum letzten Mal von David gehört, Miss Porter – Alison?«
    »Oje, das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Was Daten, Zeiten, Termine und dergleichen angeht, bin ich furchtbar vergesslich. Warten Sie mal einen Moment.«
    Selbstverständlich, sagte ich und lauschte auf das Summen in der Leitung.
    »Ja, da hätten wir’s. Der letzte Brief, den ich von ihm bekommen habe, stammt vom vierundzwanzigsten August, aufgegeben in Paris. Außerdem habe ich eine Ansichtskarte bekommen, ohne Absender, aber in New York aufgegeben, irgendwann im September abgestempelt, um den siebten rum, vielleicht auch am siebzehnten. ›Bis bald, amitiés ‹.«
    »Und seitdem nichts

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