Stiller Zorn: Roman (German Edition)
treibst.«
»Du hättest anrufen können. Oder einfach vorbeikommen.«
Sie schüttelte den Kopf. Tief unter uns zogen die Straßen vorbei, während wir quer durch den Himmel über der Stadt kurvten.
»Arbeitest du?«
»Ja«, sagte sie und lachte. »In einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer – kannst du das fassen? Schon ziemlich lange.«
»Wirst du dafür bezahlt?«
»Manchmal.«
Etwas später schaute sie rüber zu mir und sagte: »Wohin soll’s gehn, Lew?«
»Ich will nicht in meine Wohnung zurück.«
»Das dachte ich mir schon. Es gibt ja immer noch meine.«
»Olle Kamellen wieder aufwärmen?«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn’s was bringt. Wart’s ab und lass dich überraschen.«
»Richtig«, sagte ich. »Wart’s ab und lass dich überraschen.«
Vierter Teil
1990
1
Ich höre nach wie vor von Vicky, fast jeden Monat – lange, muntere Briefe über dies und jenes, was sie getrieben hat, über neue Bücher und Freunde, dass sie in Paris zum ersten Mal Der tiefe Schlaf gesehen hatte, gerade Faulkner entdeckte, über eine Reise nach Russland. Sie hatte sogar das Waisenhaus besucht, in dem sie aufgewachsen war. Zog immer noch mit großen Augen durch die Welt und versuchte jeden noch so flüchtigen Moment festzuhalten.
Cherie hatte kurz vor Vickys Abreise eine Ganztagsstelle als Schwesternhelferin angetreten und den Mietvertrag für die Wohnung übernommen. Danach stand sie die Schwesternschule durch. Ich höre nicht allzu oft von ihr, aber es geht ihr gut – ein hübsches Haus am Stadtrand von Lake Charles, ein tüchtiger Mann, der sie liebt, zwei Kinder, die Jimmi ziemlich ähnlich sehen, jedenfalls den Fotos nach zu schließen, die sie jedes Jahr zu Weihnachten schickt. Für Cherie zumindest war die beste Zeit noch nicht vorbei.
Ich blieb ein paar Wochen bei Verne, zog dann in ein möbliertes Zimmer um (unser beider Entscheidung), zog wieder bei ihr ein (meine). Ich wollte gerade wieder ausziehen (wir kamen prima miteinander klar, solange wir nicht zusammenwohnten), als ich einen Unfall hatte – der Unfall bestand darin, dass ich einem Typ den Rücken zukehrte, den ich mir gerade vorgeknöpft hatte, ziemlich heftig, weil er der Kreditfirma Geld schuldete – und Verne sagte: Sei nicht albern, bleib hier.
Das Leben war, kurz gesagt, eine Zeitlang so kompliziert wie der Satz, den Sie eben gelesen haben.
Als ich mit einer Gehirnerschütterung und etlichen gebrochenen Rippen im Bett lag, schrieb ich mehr oder weniger aus purer Langeweile ein Buch namens Skalpfleisch , das von einem Cajun-Detektiv in New Orleans handelte. Lag da und leierte es raus, reimte mir einfach irgendwas zusammen, improvisierte wie wild und packte alles rein, was mir einfiel. Der Verleger zahlte mir dreitausend Dollar dafür. Dann, als es sich einigermaßen verkaufte, bot er mir fünftausend für ein weiteres mit der gleichen Figur, und das kam an. Wir wurden in den großen Zeitungen besprochen, verkauften die Auslandsrechte, bekamen sogar ein Filmangebot. (Die Bücher sind in Frankreich sehr beliebt, teilt Vicky mir mit.) Einige Kritiker erwähnten mich in einem Satz mit Chandler, Hammett, Macdonald und Himes; hätten sie nicht tun sollen, weil die Jungs ein paar Kragenweiten zu groß für mich waren, aber sie machten es trotzdem.
Ich verdiene damit bestimmt nicht das große Geld, aber bei etwa einem Buch pro Jahr kann ich die Miete bezahlen, mir kaufen, was ich brauche, ohne Schulden zu machen, und ich halte mich von der Straße fern.
Man schreibt drei, vier Stunden pro Tag, was in etwa das Äußerste ist, was man schafft, ohne den Verstand zu verlieren, und danach hat man immer noch den Großteil des Tages vor sich. Ich versuchte Prousts und Tschechows gesammelte Werke zu lesen, schaute mir furchtbare Fernsehfilme an, Nachmittagsvorstellungen für zwei Dollar, trank zum Zeitvertreib. Schließlich schrieb ich mich auf der Dillard University ein und machte meinen Magister. Jetzt unterrichte ich ein, zwei Tage die Woche, bloß als Aushilfe, hauptsächlich Französisch, dazu gelegentlich ein Schreibkurs. Ich mache es vor allem aus Spaß, nicht des Geldes wegen, und ich lerne weit mehr dabei als meine Studenten. Wenn man älter wird, braucht man den Kontakt mit der Jugend, irgendwas, das das Hirn in Schwung hält, damit man nicht in seiner eigenen Selbstgefälligkeit einschimmelt – neue Gesichter, frisches Gemüse.
Verne und ich zogen in ein altes, am Rand des Garden District gelegenes Haus mit
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