Stiller Zorn: Roman (German Edition)
war seit drei Tagen nicht mehr in der Wohnung gewesen, im Büro seit vier, konnte es mir also aussuchen. Was soll’s, dachte ich mir schließlich, als ich die St. Charles Avenue entlangkutschierte, und entschied mich fürs Büro, weil es näher lag. Ich kurvte ein paarmal um den Block. Sämtliche Parkplätze waren voll. Schließlich ließ ich den Cad im Halteverbot stehen und klappte die Haube hoch. Schwach, aber vielleicht haute es hin. Es hatte schon geklappt.
Die Bäckerei machte ein Bombengeschäft, aber einen Stock höher sah es so aus, als wären alle ausgezogen. Nachmittags um Viertel nach zwei war das irgendwie merkwürdig. Dann fiel mir ein, dass Labor Day war. Vielleicht bekam ich zur Feier des Tages ein bisschen was zu tun.
Ich blieb vor der Glastür mit der Aufschrift »Lewis Griffin, Ermittlungen« stehen (das m hatte sich vor etwa einem Jahr verdünnisiert; meistens beneidete ich es darum) und holte den Schlüssel raus. Etliche Mitteilungen waren an die Tür gepinnt – ich hatte eine inoffizielle Abmachung mit der Bäckerei, so dass man dort Nachrichten für mich entgegennahm. Ich riss sie ab, drehte den Schlüssel um und ging rein. Der Boden war mit Post übersät, die durch den Briefschlitz eingeworfen worden war. Ich sammelte sie ein und schmiss sie mitsamt der Nachrichten auf den Schreibtisch.
Ein halbvolles Glas Bourbon und eine fast leere Flasche standen auf dem Schreibtisch. Eine Fliege schwamm in der Neige im Glas. Ich dachte drüber nach, fischte die Fliege mit einem Brieföffner raus, trank einen Schluck und goss den letzten Rest aus der Flasche nach. Dann setzte ich mich hin und ging den Müll durch.
Größtenteils handelte es sich um genau das. Postwurfsendungen, Abonnentenwerbung, religiöser Krempel. Dazu drei Mitteilungen von der Bank, dass ich mein Konto überzogen hätte und bei nächstbester Gelegenheit vorbeischauen und mit Mr Whitney sprechen sollte. Außerdem war ein Telegramm dabei. Ich hielt es hoch, drehte es ein ums andere Mal um. Die Dinger konnte ich noch nie ausstehen.
Schließlich riss ich es auf. Obendrüber war der übliche Nummern-und Zahlensalat, der nichts besagte. Darunter stand die Nachricht.
VATER SCHWER KRANK STOP FRAGT NACH DIR STOP BAPTIST MEMORIAL MEMPHIS STOP RUF BITTE AN STOP ALLES LIEBE MUTTER
Ich saß da und starrte auf das gelbe Papier. Mindestens zehn Minuten lang. Der alte Herr und ich hatten nie viel miteinander anfangen können, jedenfalls eine ganze Weile nicht, aber jetzt fragte er nach mir. Oder stellte meine Mutter das nur so hin? Und was, zum Teufel, war da überhaupt vorgefallen? Der Alte hatte eine Pferdenatur, dem konnte meiner Ansicht nach allenfalls schwerstes Geschütz etwas anhaben.
Ich stand auf und ging zum Fenster, nahm den Bourbon mit. Ich verputzte ihn in einem Zug und stellte das Glas aufs Fensterbrett. Unten auf der Straße spielte eine Horde Kinder Räuber und Gendarm. Die Räuber gewannen allem Anschein nach.
Ich ging zurück zum Schreibtisch und wählte LaVernes Nummer. Ich rechnete eigentlich nicht damit, dass ich sie um diese Tageszeit erreichte, doch beim dritten Läuten war sie dran.
»Lew? Hör mal, Mann, ich versuch dich schon die ganze Woche zu erreichen. Deine Mutter hat mich zwei-, dreimal am Tag angerufen. Ich hab überall Nachricht hinterlassen.«
»Ja, ich weiß, Schätzchen. ’tschuldigung. Ich war geschäftlich unterwegs.«
»Aber du sagst mir doch immer Bescheid …«
»Hab’s selber erst im letzten Moment erfahren.« Ich schaute sehnsüchtig zu der leeren Flasche auf dem Schreibtisch (ein gutes Wort, dieses »sehnsüchtig«) und fragte mich, ob vielleicht der Drugstore auf der anderen Straßenseite offen hatte. War mir nicht aufgefallen. »Aber jetzt bin ich wieder da und möchte dich sehen.«
»Worum geht es, Lew? Was ist los?«
»Hat Mama nichts gesagt?«
»Die hätte mir nicht mal gesagt, wer sie ist, wenn sie nicht was von mir gewollt hätte.«
»Mein Vater ist krank. Mehr weiß ich nicht. Ein Herzanfall möglicherweise, ein Schlaganfall, vielleicht auch ein Unfall – irgendwas Ernstes jedenfalls. ›Schwer krank‹, so hat’s meine Mutter ausgedrückt.«
»Lew. Du musst da rauf. Mit der nächsten Maschine.«
»Und womit soll ich das bezahlen?«
Sie schwieg einen Moment. »Ich habe Geld.«
»Wie heißt es doch so schön: Danke, aber nein danke.«
Wieder Schweigen. »Eines Tages bringt dich dein Stolz noch um, Lew. Der Stolz oder die Wut, ich weiß nicht, was dich zuerst schafft. Aber
Weitere Kostenlose Bücher