Stiller
rührend in ihrer Überflüssigkeit. Auch eine Dame war dabei, eine reife Persönlichkeit, jemand wie eine Tempelhüterin, dabei von einer menschlichen Bescheidenheit, die man auf den ersten Blick sehen kann. Meine Versicherung, daß ich gar nicht der vermeintliche Stiller bin, erleichterte die kleine Versammlung der Kritiker sichtlich, und dann kam auch der Whisky. Ich erkundigte mich bei der Dame, warum sie mir vorher die Hand verweigert hätte. Da wurde es wieder etwas peinlich, doch nur für Augenblicke. Hätte sie gewußt, daß es sich um Stiller handelte, wäre die Dame überhaupt nicht an diesen Kaffeehaustisch gekommen. Stiller muß sich dieser Dame gegenüber ganz unflätig benommen haben. Mein Verteidiger blickte mich an, und auch ich wurde neugierig; die Art und Weise, wie die Dame sich verschwieg, ließ allerhand vermuten. Stiller hatte dieser Dame einmal einen Brief geschrieben, höre ich, und sie als ›Lehrerin‹ angerempelt, bloß weil sie ihm eine wahre Künstlerschaft abzusprechen einfach durch Geist, durch Liebe zum Geist, durch innerste Verpflichtung gegenüber der Kunst aller Zeiten gezwungen war und immer gezwungen sein wird. Ich griff die Hand dieser grazil-temperamentvollen Dame, was wohl zu weit ging, und sagte: Frau Doktor, Sie reden mir aus dem Herzen! Es handelt sich um die Skulptur, die ich neulich in einer öffentlichen Anlage selbst gesehen habe. Zwar meinte die Dame es immerzu etwas anders als ich, differenzierter, aber wir unterhielten uns mit strengen Maßstäben, und infolgedessen ging es auch bald nicht mehr um den verschollenen Stiller, der solchen Maßstäben nicht standhält, sondernum die Dame selbst, um die Kritik als solche, wovon sie sehr viel versteht. Ich begreife ihren Entschluß, nie wieder über Stiller zu schreiben, Stiller einfach der Vergessenheit zu überlassen; was könnte ich in meiner Lage, wo dieser Verschollene mir überall im Wege steht, Besseres wünschen! Und auch die Herren, wie gesagt, waren einfach nett; man muß einem Kritiker nur in aller Offenheit versichern, daß man kein Künstler ist, und schon führen sie ein Gespräch mit uns, als verstünde man von Kunst soviel wie sie.
Julika verreist. Leider war sie vor ihrer Abreise gerade hier, als der Psychiater mich verhörte, der aus Angst, meine Seele könnte ihm entkommen, nicht einmal ein rasches Öffnen der Tür gestattete! Ihr kleiner Zigarren-Gruß rührte mich gerade dadurch, daß es wieder eine falsche Marke ist; Zigarren sind für sie einfach Zigarren, und da es sehr teure sind, denkt sie, werden sie mich schon freuen. Sie freuen mich auch: weil sie von Julika kommen.
Besuch von einem alten Ehepaar, Professor Haefeli und Frau, die, von meinem amtlichen Verteidiger dahin unterrichtet, daß ich Anatol Ludwig Stiller sei, das Gesuch um eine persönliche Besprechung eingereicht haben und mir auf eine durchaus persönliche Art ihre Hand geben, sich nach einigem verlegenen Schweigen auf meine Pritsche setzen, um endlich in einem vertrauensvollen, wenn auch scheuen und im Anfang geradezu bangen Ton ein offensichtlich sehr wichtiges, für sie wichtiges, lange gesuchtes Gespräch einzuleiten.
»Wir kommen«, sagt der alte Professor, »in einer ganz persönlichen Sache, die mit Ihrer derzeitigen Angelegenheit nichts zu tun hat. Sie haben unseren Sohn gekannt –«
»Alex hat viel von Ihnen gesprochen –«
»Wir haben es bedauert«, sagt der alte Professor mit einem bedächtigen Ernst, mit einer spürbaren Bemühung, sachlich zu bleiben und die Mutter, eine weißhaarige Dame, vor überbordender Erregung zu bewahren, »wir haben es sehr bedauert, daß Alex seine Freunde nie nach Hause gebracht hat. Jedenfalls sprach er von Ihnen in diesem Sinn. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das Sie nicht überraschen wird, kurz vor seinem Tod; unser Sohn bezeichnete Sie als den nächsten Menschen, den er auf Erden habe. Dabei hörte ich, offen gestanden, Ihren Namen zum erstenmal –«
Ein Foto, von der anfänglich eher stummen Mutter, die hinter ihrer schönen Gediegenheit etwas Verstörtes zu haben scheint, mit banger Zudringlichkeit überreicht, damit ich mich erinnere, zeigt Alex, einen vielleicht Fünfundzwanzigjährigen, im schwarzen Frack, die Hornbrille in der rechten Hand, während seine linke Hand, bemerkenswert grazil, auf einem schwarzen Konzert-Flügel liegt; er macht eine knappe, etwas verhemmte Verbeugung. Es ist ein rührendes Bild, schon weil man diese verschämte Verbeugung
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