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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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tatsächlich eine Sitzung, mußte sie fast eine Stunde lang warten lassen. Es war elf Uhr; hätte man sich nicht einfach zum Mittagessen sehen können? Rolf ließ bitten, ging ihr zur Tür entgegen mit der stummen Frage: Was ist los? Sibylle war etwas blaß aber munter. »Ach«, sagte sie, »das ist also dein Büro?« und ging sogleich ans Fenster, um die bescheidene Aussicht kennenzulernen. Rolf fragte nicht: Wie war es in Sankt Gallen?, auch nicht: Wie war es in Paris? Es war an Sibylle, fand er, zu reden, nicht an ihm. Sie tat, als wäre nichts gewesen, und war befangen wie noch nie, plauderte als hätte sie nur einmal seine neue Arbeitsstätte sehen wollen, und rauchte hastig. Rolf hätte ja einmal nach Sankt Gallen anrufen können; wohlweislich hatte er es unterlassen. War es dies, was sie herausfinden wollte? Sibylle dankte ihm für die Überraschung des Umzugs. Was weiter? Sie hatte ein Geheimnis in den Augen, Angst auch, ohne davon zu reden oder auch nur reden zu wollen, so daß Rolf es als Farce empfand, unerträglich, Rolf hinter seinem breiten Schreibtisch, Sibylle gegenüber in demFauteuil wie eine Klientin. Wollte sie die Scheidung? Plötzlich sagte er gegen seinen Willen: »Ein Herr Stiller hat angerufen, offenbar dein Liebhaber.« Bei diesem Wort zuckte sie zusammen. Es tat ihm leid, dieses Wort, und zugleich empörte es ihn, daß er nun auch noch um Entschuldigung bitten sollte, und statt dessen fügte er mit einer Fairneß, deren Herablassung ihm sehr bewußt war, hinzu: »Ich nehme an, ihr habt euch in Paris dann doch getroffen, der Anruf kam am Mittwoch.« Darauf erhob sich Sibylle wie nach einer ergebnislosen Unterredung, die aber gar nicht stattgefunden hatte, langsam und wortlos, ging zum Fenster; Rolf sah an ihren Schultern, daß sie weinte, schluchzte. Sie duldete nicht seine Hand auf ihrer Schulter, nicht einmal seinen Blick. »Ich gehe schon!« sagte sie. »Wohin?« fragte er. Sie quetschte ihre halbe Zigarette in seinen Aschenbecher, nahm ihre Handtasche, ein Tüchlein und Puder, um ihr Gesicht in Ordnung zu bringen, und sagte mit der umverschämtesten Leichtigkeit: »Nach Pontresina.« Und nach einem tiefen Atemholen, während Sibylle nun ihre Lippen malte, sagte Rolf abermals: »Wie du willst.« Dann ihre alberne Frage: »Hast du etwas dagegen?« Dann seine ebenso alberne Antwort: »Tue, was du für richtig hältst!« Und so ließ er sie gehen ...
    Und sie ging tatsächlich nach Pontresina.
    Anfang Dezember, als sie sonnengebräunt zurückkehrte, schlug er die Scheidung vor. Sie überließ es ihm, die nötigen Schritte zu unternehmen. Rolf wurde nun überhaupt nicht mehr klug, als sie ihm meldete, der junge Sturzenegger hätte ihr geschrieben, daß er dringend eine Sekretärin brauchte, und sie hätte sich entschlossen, mit Hannes nach diesem Redwood-City zu fahren, Kalifornien. Noch einmal sagte Rolf: »Wie du willst!« Er glaubte es nicht. Das alles war doch eine kindische Farce! Und auch wenn sie auf das amerikanische Konsulat ging, um ihre Fingerabdrücke zu geben, er glaubte es nicht. War es denn an ihm, die erste Geste der Versöhnung zu machen? Er hatte sie nicht zur Verfügung, nicht als erster, er, der keine Ahnung hatte, was eigentlich vorgefallen war. Auf blinder Versöhnung war keine Ehe zu bauen, schien ihm. Wartete sie auf ein Wort, daß sie bleiben sollte? Auch der Platz auf der »Ile de France« war bestellt, Rolf wußte es. Vielleicht hatte Sibylle ihn in dem vergangenen Sommer vollkommen verlassen, aber darum ging es nicht einmal; ohne ihr erstes Wort, daß sie ihrerseits bleiben möchte, war es für ihn einfach nicht möglich, Sibylle darum zu bitten, ohne in seiner Ahnungslosigkeit lächerlich zu werden und eben dadurch die Ehe, die zwischen ihnen vielleicht nochmöglich war, der Lächerlichkeit preiszugeben. Es war in Wahrheit nicht möglich, so jedenfalls nicht. Er durfte ihrer Drohung nicht nachgeben, dünkte ihn. Wenige Tage vor Weihnachten fuhr Sibylle mit Hannes, der damals noch nicht zur Schule ging, tatsächlich nach Le Havre, um sich für Amerika einzuschiffen.

Fünftes Heft
    Die heutige Veranstaltung ist für meinen Verteidiger, diesen emsigen Mann, der nach wie vor den verschollenen Stiller verteidigt, gänzlich mißglückt: Apéritif-Konfrontation mit den führenden Kritikern des Städtchens! Und sieh da, es war einfach nett. Die Bitte eines jungen Herrn, daß ich gewisse Pointen, geschrieben vor sieben Jahren, keinesfalls persönlich nehmen dürfte, war

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