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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Zürich. Und es ist angekommen; leider. Anrede: Mein lieber Anatol! Sie ist gut gereist, und in Paris scheint die Sonne. Unterschrift: Deine Julika. Ich habe das Brieflein langsam in hundert Fetzen zerrissen; aber was ändert es –!
     
     
    Heute wieder sehr klar: das Versagen in unserem Leben läßt sich nicht begraben, und solange ich’s versuche, komme ich aus dem Versagen nicht heraus, es gibt keine Flucht. Aber das Verwirrende: die andern halten es für selbstverständlich, daß ich ein anderes Leben nicht vorzuweisen habe, und also halten sie, was ich auf mich nehme, für mein Leben. Es ist aber nie mein Leben gewesen! Nur insofern ich weiß, daß es nie mein Leben gewesen ist, kann ich es annehmen: als mein Versagen. Das heißt, man müßte imstande sein, ohne Trotz durch ihre Verwechslung hindurchzugehen, eine Rolle spielend, ohne daß ich mich selber je damit verwechsle, dazu aber müßte ich einen festen Punkt haben –
     
     
    Mein Staatsanwalt gesteht, daß er die Blumen für seine Gattin vergessen hat; dafür macht er den Vorschlag, ich sollte doch seine Gattin einmal in der Klinik besuchen und meine Blumen (aus seinem Geld) persönlich bringen. Es würde seine Gattin, meinte er, ungemein freuen.
     
     
    Herr Sturzenegger war hier. Ich hatte geschlafen, und als ich einigermaßen erwachte, saß er bereits auf meiner Pritsche; er hatte auch schon mit beiden Händen – und daran war ich wohl erwacht – meine rechte Hand ergriffen.
    »Mein Lieber«, fragt er, »wie geht’s dir?«
    Langsam richte ich mich auf.
    »Danke«, sage ich, »wer sind Sie?«
    Er lacht. »Du kennst mich nicht mehr?«
    Ich reibe mir die Augen.
    »Willi!« nennt er sich und wartet auf den Ausbruch meiner Herzlichkeit; ich kann es ihm indessen nicht ersparen, sich ordentlich vorzustellen; mit einem Unterton von Mißmut fügt er hinzu: »– Willi Sturzenegger –«
    »Ah«, sage ich, »erinnere mich.«
    »Endlich!«
    »Mein Staatsanwalt hat von Ihnen erzählt.«
    Das also ist Sturzenegger, Freund von Stiller, ehedem junger Architekt, der von konsequenter Modernität schwärmte, heute ein Mann von Karriere, ein Mann der fidelen Resignation, ein Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, und als Arrivierter natürlich von betonter Kameradschaftlichkeit.
    »Und du?« fragt er sofort, ohne seine Erfolge gemeldet zu haben, mit der Hand auf meiner Schulter, »was machst denn du, mein Guter, daß sie dich in dieses subventionierte Appartement stecken?«
    Er nimmt, wie erwartet, alles sehr fidel, auch meine Bitte, er möge mich nicht für den verschollenen Stiller halten.
    »Im Ernst«, sagt er dann, »wenn ich dir irgendwie helfen kann –«
    Einmal mehr spüre ich etwas Unheimliches, eine Mechanik in den menschlichen Beziehungen, die, Bekanntschaft oder gar Freundschaft genannt, alles Lebendige sofort verunmöglicht, alles Gegenwärtige ausschließt. Ein Häftling wie ich, was soll ich schon mit einer Banknote anfangen? Aber es funktioniert alles wie ein Automat: oben fällt der Name hinein, der vermeintliche, und unten kommt schon die dazugehörige Umgangsart heraus, fix und fertig, ready for use, das Klischee einer menschlichen Beziehung, die ihm (so sagt er) wie kaum eine andere am Herzen liegt.
    »Das kannst du mir glauben«, sagt er, »sonst säße ich nicht mitten in der Arbeitszeit hier auf deiner Pritsche.«
    Eine volle Stunde lang spielen wir Sturzenegger und Stiller, und das Unheimliche: es geht vortrefflich, reibungslos. Sein Spaß und sein Ernst sind heute noch, sieben Jahre nach ihrer letzten Begegnung, dermaßen auf den verschollenen Freund eingespielt, daß ich (jedermann an meiner Stelle) meistens ohne Schwierigkeit erraten kann, wie ihr Stiller sich in diesem oder jenem Punkt eines Gesprächs verhalten hat, also auch jetzt verhalten würde. Zuweilen wird es gespenstisch; Sturzenegger schüttelt sich vor Lachen, ich weiß nicht wieso. Er kennt den Witz, den sein verschollener Freund jetzt nicht würde unterlassen können, und ich brauche diesen Witz gar nicht zu machen, nicht einmal zu kennen. Herr Sturzenegger schüttelt sich schon vor Lachen. Dann erscheint er wie ein Hampelmann an den unsichtbaren Fäden der Gewöhnung, kein Mensch. Nachher habe ich kaum eine Ahnung, wer dieser Sturzenegger eigentlich ist. Das macht mich, daich meinerseits nichts dagegen vermag, melancholisch schon während unserer lustigen Unterhaltung. Sein Zuspruch, ich solle doch den Mut nicht verlieren, überhaupt seine ganze Freundschaft

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