Stiller
In Gegenwart meines Verteidigers werde ich überhaupt nicht sprechen, das ist gewiß, so leid mir diese Eltern tun, der alte Professor vor allem, der umständlich genug, da er etwas beleibt ist, ein sauberes Taschentuch in seinen Hosen sucht, schließlich auch findet und der weißhaarigen Mutter, die beide Hände vor ihrem Gesicht hat, lange erfolglos anbietet.
»Das wissen Sie wohl nicht«, sagt die Mutter später mit einer gefaßten oder auch nur erschöpften Stimme, nachdem sie das Taschentuch benutzt hat und es jetzt mit ihren feinen Händen immerzu büschelt, »in seinem kleinen Abschiedsbrief – das können Sie ja nicht wissen – Alex schreibt, er habe lange mit Ihnen gesprochen, Sie haben ihm recht gegeben! – schreibt er.«
Der Vater zeigt den oft beweinten Brief.
»Worin«, schluchzt die Mutter aufs neue, »worin haben Sie ihm recht gegeben? Seit sechs Jahren –«
Es ist ein sehr kurzer Brief, eigentlich ein zärtlicher Brief. Die Anrede: Geliebte Eltern! Ein ›Grund‹ für den bevorstehenden Selbstmord wird nicht angegeben. Er bittet eigentlich nur die geliebten Eltern, ihm zu verzeihen. In bezug auf Stiller heißt es: ›Dann habe ich auch nochmals mit Stiller gesprochen, alles was er sagt, gibt mir recht, es hat keinen Sinn. Stiller redet eigentlich bloß von sich selbst, aber alles was er dabei sagt, gilt auch für mich.‹ Es folgen einige Anordnungen betreffend das Begräbnis, insbesondere der Wunsch, daß kein Pfarrer zugegen ist, es soll auch nicht Musik gemacht werden ... Als ich den Brief wortlos zurückgebe, fragt auch der Vater:
»Können Sie sich erinnern, was Sie an jenem Tag mit unserem Alex gesprochen haben?«
Meine Erklärungen, ich höre es selbst, klingen wie Ausflüchte. Aber auch so, sehe ich, beruhigen sie mehr als mein Schweigen. »Hoffentlich haben Sie meine Frau nicht mißverstanden«, sagt der alte Professor nach meinem Verstummen, »wir können ja nicht behaupten, daß Sie es damals gewesen sind, und überhaupt – ob Sie nun Herr Stiller sind oder nicht! – wir haben niemand Vorwürfe zu machen, daß er unseren armen Alex nicht hat bewahren können. Um Gottes willen! Auch ich, sein Vater, habe ihn nicht bewahren können ...«
»Und dabei«, sagt die Mutter mit stillen Tränen, »dabei war Alex so ein wertvoller Mensch –«
»Er war hochmütig«, sagt der Vater.
»Wie kannst du –«
»Er war hochmütig«, sagt der Vater.
»Alex?«
»Wie du und ich, wie alle um ihn herum«, sagt der alte Professor und wendet sich wieder an mich, »Alex war homosexuell, das wissen Sie, es war nicht leicht für ihn, sich selbst anzunehmen. Aber leicht ist es für uns alle nicht, das ist wahr. Hätte er damals einen Menschen getroffen, der ihn nicht bloß ermunterte mit Worten und Erwartungen, sondern einen Menschen, der zeigte, wie man mit seiner Schwäche lebt –«
Die Mutter schüttelt den Kopf.
»Das ist richtig«, sagt der alte Professor, ohne auf den stummen Widerspruch der weißhaarigen Dame einzugehen, sozusagen unter Männern, »ich glaube auch, daß bei Leuten, die Erfolg brauchen wie Sauerstoff, um leben zu können, allerhand nicht in Ordnung ist. Aber was habe ich dagegen getan? Ich habe ihm den Erfolg nur verächtlich gemacht, nichts weiter. Das Ergebnis: Der Bub schämte sich auch noch, ehrgeizig zu sein! Statt sich endlich einmal zu dulden, so wie er ist, sich selbst einmal zu lieben, Sie verstehen, wie ich’s meine. Es hätte ihn jemand wirklich lieben müssen! Was ich ihm gewesen bin: ein guter Mittelschullehrer, mag sein, ich förderte seine Begabungen, wo ich nur konnte, und mit seiner Schwäche blieb er einfach allein. Meine ganze Erziehung bestand darin, ihn von seiner Schwäche zu trennen. Bis er sich selbst von seiner Schwäche hat trennen wollen, der dumme Bub –«
Abermals weint die Mutter.
»Unser Sohn ist zu Ihnen gekommen«, klagt sie, »warum haben Sie ihm denn all das nicht gesagt? Sie haben gesprochen mit ihm – damals!«
Schweigen.
»Es ist furchtbar«, sagt der alte Professor, während er sich den Zwicker putzt und ganz kleine, blinzelnde Augen hat, »es ist furchtbar, wenn man sieht, daß man einen Menschen, der uns liebte, nicht hat retten können ... Nach jenem Gespräch habe ich gedacht, daß dieser Stiller – Alex redete so herzlich von ihm, nicht wahr, Berta, und wie von einem wirklich lebendigen Menschen –«
Kurz darauf kommt mein Verteidiger.
Julika schreibt aus Paris. Adresse: Herrn A. Stiller, z. Z. Untersuchungshaft
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