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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Sturzenegger entfernte sich rasch wie nach dem versehentlichen Betreten eines fremden Zimmers, das uns nichts angeht, ohne zurückzublicken, als Rolf nochmals die Wagentüre öffnete und guten Flug nach Kanada wünschte. Dann, nur um nicht stehenzubleiben, fuhr Rolf weiter, ziellos wie damals in Genua – nur nicht nach Hause! Nur jetzt Sibylle nicht sehen! Nichts war überwunden, überhaupt nichts!
    Das war im Oktober gewesen.
    Wie alle Männer der Tat, wenn sie einen heiklen Teil ihres Innenlebens nicht erledigen können, stürzte Rolf sich nicht in Grübelei über sich selbst, sondern in Arbeit, in nützliche und sachliche Arbeit, woran es in seiner eben angetretenen Staatsanwaltschaft freilich nicht fehlte, und er erledigte, was innerhalb seiner Kompetenz überhaupt erledigt werden durfte, er erledigte von Morgen bis in die späten Abende hinein, bis seine letzte Sekretärin erledigt war, und dann eben allein; er erledigte im Stil eines rasenden Roland. Die Kollegen hielten ihn damals wohl für einen wilden Streber. Die Kollegen hatten ja keine Ahnung, was diesen immer sehr beherrschten, immer sehr überlegenen und anerkanntermaßen kühlen Kopf auf solche Touren brachte. Rolf hatte den lebenslänglichen Ruf, ein sehr geregeltes und also glückliches Dasein zu führen, einen Ruf übrigens, den er seinerseits in keiner Weise pflegte und hegte, durchaus nicht, Rolf konnte sich ohne weiteres vor dem Dogenpalast sehen lassen mit einer anderen Dame, Tauben füttern, ohne daß in seinem Städtchen nachher ein Gerede entstand; es gibt solche Männer, Phänomene des guten Rufs, man kann ihrem Ruf nichts anhaben, so wenig wie man das Gefieder einer Möwe naßmachen kann, und dann hat auch niemand, selbst in einem Städtchen wie Zürich, das Verlangen nach Klatsch, denn es ist zu langweilig, Möwen naßmachen zu wollen. Und dieses Phänomen, so scheint es, übertrug sich auch auf seine Gattin; man kam bei ihr einfach nicht drauf. Wer also sollte den Arbeitseifer des neuen Staatsanwalts richtig begreifen können! In denverschiedenartigsten Fällen, deren Rolf sich anzunehmen hatte, bemühte er sich übrigens aufs äußerste, nicht alle Frauen in den gleichen Topf zu werfen; er bewahrte sich zumindest in fremden Fällen durchaus das Unterscheidungsvermögen; er sah auch Fälle, wo es am Mann lag. Er galt als sehr verständnisvoll, den Menschen vor der Schranke suchte er nach Möglichkeit jede Demütigung zu ersparen, und wie die Pflaumen am Pflaumenbaum wuchsen ihm wieder die Erfolge, die seiner Sibylle nicht den mindesten Eindruck machten, schlimmer noch: sie freute sich nur über Rolfs berufliche Erfolge wie etwa über ein gelungenes Wasserrädchen, womit sie Klein Hannes für die nächsten paar Tage beschäftigt und befriedigt wußte ... Wieder träumte Rolf von einem lotterigen Paket mit dem fleischfarbenen Kleiderstoff! ... Und dann, ja, dann kam der Umzug ins neue Haus, und Sibylle hatte die Stirne, in jener Woche zu einer Freundin nach Sankt Gallen auf Besuch zu gehen. Rolf erinnerte an den bevorstehenden Umzug; aber die Freundin in Sankt Gallen war unaufschiebbar. Rolf glaubte wohl keinen Augenblick an diese Freundin in Sankt Gallen, sagte aber bloß: Wie du willst, bitte sehr! Und Sibylle ging tatsächlich. Eine Wut mit präzisem Grund zu haben, so eine Wut, die man nicht zu sublimieren brauchte, so eine richtige und sogenannte Stinkwut, wie Rolf sie in jener Woche hatte, war ein wahres Labsal; es entband ihn für einmal von seiner achtenswerten Haltung, und er fluchte in dem neuen Haus umher, daß die Männer mit Gurten, die unter ihren Lasten wissen wollten, wohin mit dem Toggenburger Bauernschrank und wohin mit der Nähmaschine und wohin mit den Geschirrkisten und wohin mit Boudoir-Tischlein, sich über die Ausdrucksweise eines Gebildeten nur wundern konnten. »Zur Dame!« sagte Rolf, »zur Dame mit diesem ganzen Plunder oder zum Fenster hinaus!«, und im Weggehen: »Daß dieses Weib nicht da ist, einfach eine Sauerei, eine verdammte Sauerei ist das, einfach eine Sauerei!« Und die braven Männer wagten schon nicht mehr zu fragen, damit der nervöse Herr sich vor ihnen nicht weiter blamierte; sie besichtigten das Zeug aus dem Möbelwagen, gaben einander einen Blick, und alles, was nicht offenkundig in den Garten oder in den Keller gehörte oder als Schreibtisch eines gebildeten Herrn zu erkennen war, stapelten sie stillschweigend ›zur Dame‹. Zum Schluß, als das Durcheinander vollendet war, bekamen die braven

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