Stiller
sieht, ohne Applaus zu hören, dadurch hat sie etwas Eingefrorenes, etwas Ausgestopftes, etwas Totes im jämmerlichen Sinn. Sein Gesicht, obschon vom Blitzlicht ziemlich verflacht, ist ungewöhnlich, ebenfalls grazil, der Mutter sehr ähnlich und etwas weiblich, ohne weich zu sein; man vermutet einen Homosexuellen. Sein Gesicht hat eine seltsame Freudigkeit, die nicht aus ihm selbst zu kommen scheint, sondern von außen, von irgendwoher wie das Blitzlicht, das ihn überrascht hat, von einem nicht sichtbaren Ereignis, das ihn zur eigenen Verblüffung davon überzeugt, Grund zur Freude zu haben. Vermutlich ist es ein erster Erfolg im Konzertsaal. Man meint, das Verstörte zu sehen, das auch seine Mutter hat und das es schwierig macht, dieser im übrigen angenehmen, zweifellos sehr gebildeten Dame in die Augen zu blicken. Sie duldet nicht, daß man mit eigenen Augen auf ihren Sohn sieht. Sie will immer etwas. Sie lechzt nach Einverständnis um jeden Preis.
»Alex«, sagt sie, »hat Sie sehr geschätzt –«
Ich weiß lange nicht, was sie eigentlich will, was der Zweck dieses Besuches ist, der den beiden unglücklichen Eltern ja nicht leicht fällt, und welcher Art ihre Hoffnung, die ich erfüllen soll. »Sein Tod«, sagt der alte Professor, »ist ein bitteres Rätsel für uns, wie Sie sich wohl denken können. Jetzt sind es sechs Jahre her –«
»Und Alex war so hochbegabt!«
»Jaja«, sagt der alte Professor mit einer Tendenz, die Mutter durch rasches Einverständnis nicht zu Wort kommen zu lassen, »das war er gewiß, jaja –«
»Fanden Sie das nicht?« fragt die Mutter.
»Was seinen Tod betrifft –«, sagt der Vater.
»Das fand auch die Julika Tschudy!« betont die Mutter, »es gibt sogar einen Brief von Ihrer lieben Frau, die unser Alex, wie Sie wissen, als Künstlerin sehr verehrt hat, und ich werde es Ihrer verehrten Frau nie vergessen, gerade Ihre Frau hat Alex oft ermuntert, wenn er nicht mehr an sichglaubte und wenn es mit seiner Arbeit nicht ging, das weiß ich, unser Sohn hat sich vor niemand so geschämt wie vor Frau Julika. Ohne ihre liebevolle Ermunterung –«
Der alte Professor, von der Gattin unterbrochen und in Höflichkeit verstummt, zündet sich unterdessen eine Zigarette an, die er später gar nicht raucht, und eine Zeitlang, während die weißhaarige Dame allein spricht, ist es, als ginge es wirklich darum, die hoffnungsvolle und vielversprechende Hochbegabtheit eines jungen Toten zu bezeugen, ja, als brauchte sie eine Empfehlung zuhanden des lieben Gottes für ihren toten Sohn als Pianist. Ich verstehe den alten Professor, der in dieser Richtung einfach zustimmt, seinerseits von anderen Fragen bedrängt. Sooft er glaubt, ich merke es nicht, sieht er mich übrigens in einer Weise an, als wäre der verschollene Stiller daran schuld, daß Alex sich eines Vormittags, nach einer Ballett-Probe im Stadttheater, vor den Gasherd gesetzt hat. Zuweilen sprechen auch beide Eltern zusammen, begreiflicherweise erregt, da alles wieder vor ihren Augen erscheint, als wäre es gestern geschehen. Als Fremder hat man das verwirrende Gefühl, daß eigentlich zwei Söhne sich das Leben genommen haben, zwei ganz verschiedene Söhne, zu vereinigen nur dadurch, daß sich ein einziger Grund für ihren Selbstmord erfinden ließe. Darum geht es. Ich soll wissen, wer Alex, ihr einziges Kind, gewesen ist. Er hat sich vor einen Gasherd gesetzt, wie man’s aus Zeitungsberichten und Romanen kennt, er hat sämtliche Hahnen aufgedreht, einen Regenmantel über den Gasherd und seinen Kopf gehängt, in der Hoffnung geatmet, daß der Tod einfach das Ende sei, eine bläuliche Betäubung geatmet, vielleicht geschrien, aber schon ohne Stimme geschrien. Er sei vom Sessel gefallen, heißt es, er konnte seinen Irrtum nicht mehr verlassen; er hatte plötzlich keine Zeit mehr. Jetzt ist es zu spät. Seit sechs Jahren schon ist er ohne Zeit. Er kann sich nicht mehr selbst erkennen, jetzt nicht mehr. Er bittet um Erlösung. Er bittet um den wirklichen Tod ... Nach einer Weile gebe ich das Foto zurück, wortlos.
»Was haben Sie mit Alex gesprochen?« schluchzt die Mutter, »was haben Sie –«
»Beruhige dich«, sagt der Vater.
»Schweigen Sie nicht!« fleht die Mutter, »sagen Sie es, um Gottes willen, schweigen Sie nicht!«
Ihr Schluchzen macht sie wortlos. Als der Wärter kommt, um sich zu erkundigen, wie es seine Pflicht ist, geben wir ihm einen stummen Wink, damiter wieder geht; er wird es Dr. Bohnenblust melden, weiß ich.
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