Stiller
protokolliere:
Fast eine Stunde lang hatte Sibylle in seinem Vorzimmer warten müssen, bis die Sekretärin kam: »Der Herr Staatsanwalt läßt bitten!« Nach einem Händedruck, nach einem Augenblick auf der Schwelle, da Sibylle die Empfindung hatte, daß sie im Boden versinken müßte, wenn seine Hand sie nicht trüge, ging sie an Rolf vorbei (das ist wahr) geradewegs zum Fenster, als wäre sie der Aussicht wegen gekommen. »Das also ist dein Büro?« sagte sie in einem Ton, als wäre nichts vorgefallen. »Großartig.« Es war die pure Verlegenheit. »Ja«, antwortete er, »das ist mein Büro.« Er musterte sie, als käme sie von einer Liebesfahrt. »Ich möchte mit dir sprechen!« sagte Sibylle ausdrücklich, und Rolf wies sie in den Klubsessel wieeine Klientin, bot Zigaretten an, die in einer großen Schachtel auf dem Schreibtisch waren, sozusagen amtliche Zigaretten. »Danke –«, sagte Sibylle und fragte: »Wie geht’s dir?« Und ohne die Betonung zu verschieben, machte Rolf einfach das Echo: »Wie geht’s dir?« So saßen sie nun einander gegenüber und rauchten. Rolf hinter seinem großen Schreibtisch, während Sibylle sich wie auf offenem Felde vorkam. Wollte er überhaupt noch hören, wie verbunden sie ihm war? Nicht einmal die ironische Frage: Wie war’s denn in St. Gallen? »Du mußt mich entschuldigen«, sagte Rolf, »in einer halben Stunde habe ich Verhandlung.« Und natürlich brachte Sibylle kein Wort heraus. Warum fragte er nicht rundheraus, wo sie gewesen wäre? Oder ganz einfach: Warum lügst du? Statt dessen meldete er bloß: »Der Umzug ist erledigt. Zum Glück hatten wir ordentliches Wetter ...« Sein Bericht über den Umzug war vollkommen sachlich, ohne einen Unterton von Vorwurf, daß Sibylle nicht zugegen gewesen war. »Vorläufig habe ich deine Sachen einfach einstellen lassen«, erklärte er, »ich weiß ja nicht, wie du dein Zimmer einzurichten gedenkst, und überhaupt –« Leider unterbrach sie das Telefon. (Vom Krankenhaus war Sibylle zuerst in ihre alte Wohnung gefahren. Das Hallen ihrer Schritte in lauter leeren Zimmern, die verblichenen Tapeten mit den dunkleren Rechtecken entschwundener Bilder, die Schäden allenthalben, die Unbegreiflichkeit, daß sie sechs Jahre lang zwischen diesen Wänden gewohnt hatten, und all dies nach ihrem glimpflichen, heimlichen, notwendigen, aber durch alle Narkose hindurch himmelschreienden Verlust, es war gräßlich gewesen, und Sibylle hatte geweint, als sähe sie in dieser leeren und beschädigten, unsagbar schäbigen Wohnung, die keine mehr war, die anschauliche Summe ihres Lebens. Sie hatte versucht, Rolf anzurufen, aber vergeblich; das Telefon war bereits außer Betrieb. Dann war sie zum neuen Haus gefahren, um das Zimmer der Dame zu sehen: ein einziges Durcheinander, ein Möbellager, die handgreifliche Sinnlosigkeit, ein Haufen von Bildern und Spiegeln, Büchern, Hutschachteln, Vasen und Schuhen, Nähzeug, lauter tadellose Ware, aber Ware, nichts als Ware, ein Haufen zum Anzünden. Hannes hatte ihr keine Ruhe gelassen, und als er Vaters neues Zimmer zeigen wollte, war Sibylle auf der Schwelle stehengeblieben. Dann war sie hierhergefahren ...) Endlich war das Telefon erledigt, Rolf legte den Hörer zurück und besann sich auf das unterbrochene Gespräch, schien es; dann aber sagte er: »Es hat jemand aus Paris angerufen, ein gewisser Herr Stiller, vermutlich dein Liebhaber –« Sibylle blickte ihn nur an. »Ich denke«, fügteer hinzu, »du hast den Herrn in Paris noch getroffen ...« Es hätte diesen Zusatz nicht mehr gebraucht, Sibylle hatte bereits ihre Handtasche genommen und sich unwillkürlich erhoben. »Wohin gehst du?« fragte er bloß. »In die Berge«, antwortete Sibylle kurz, geistesgegenwärtig in Erinnerung an ein Plakat, das sie unterwegs hierher gesehen hatte, »nach Pontresina«. Und Rolf, dieser Dickschädel, dem es noch nicht Farce genug war, begleitete sie tatsächlich zur Türe. »Mach, was du willst«, sagte er und hob ihr den Handschuh auf, den sie verloren hatte. »Danke«, sagte Sibylle und hätte nun eigentlich gehen können, ja, sie verstand nicht, warum sie, statt durch die Tür zu gehen, nochmals zum Fenster ging. »Ich finde es lächerlich«, meinte sie, »vollkommen lächerlich, wie wir uns benehmen, kindisch ...« Rolf schwieg. »Du bist im Irrtum!« sagte sie und mußte nun irgendwie weitersprechen, »du hast kein Recht, mich so zu behandeln. Hast du erwartet, ich komme, dich um Verzeihung zu bitten? Wir sind
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