Stiller
ich weiß! Er hatte mancherlei, was du nicht hast,Rolf, und was ich vermisse. Aber es wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen, siehst du, in der Tat, es wäre mir grotesk vorgekommen, mit einem anderen Mann weiterzureisen statt mit dir. Warum eigentlich! Ich weiß nicht, woher ich meine Vorstellung von der Ehe habe, aber ich habe sie – noch heute ... Vielleicht ist es richtig«, schloß sie nach einigem Besinnen, »wir lassen uns scheiden.« Dazu blickte sie zum Fenster hinaus, sah seine Miene nicht; jedenfalls schwieg er. »Überlege es dir!« sagte sie, »ich habe nie geglaubt, daß für uns eine Scheidung möglich sein könnte. All die Scheidungen in unserem Bekanntenkreis, ich fand sie richtig, ich dachte mir immer, daß es sich in solchen Fällen eben nie um eine Ehe gehandelt hätte. Das waren eben Verhältnisse, dem bürgerlichen Geschmack zuliebe legalisiert, aber ungültig von Anfang an. Wozu sollten die zusammenbleiben! Das kommt mir vor, wie wenn jemand eine Vogelscheuche aufrichten würde und nachher selber nicht mehr wagt, in seinen Garten zu treten. Das waren eben keine Ehen, sondern ›bürgerliche‹ Verhältnisse. Du hast mich immer ›bürgerlich‹ genannt, wenn dir mein Gefühl nicht paßte, und heute glaube ich, daß du viel ›bürgerlicher‹ bist als ich, im Ernst. Wozu hättest du sonst unser Verhältnis legalisiert, ohne an die Ehe zu glauben! Nur weil wir ein Kind bekamen ...« Rolf ließ sie reden. »Ich weiß«, lächelte Sibylle, »es gefällt dir, gefaßt zu sein. Ob ich nach Paris oder nach Pontresina fahren will, immer bist du gefaßt! Und das hältst du für deine Großmut. Ist es nicht so? Deine Großmut soll mich bezwingen. Im Grunde, denke ich manchmal, willst du nur meine Hörigkeit. Um dann deine Freiheit zu haben! Das ist alles. Du wartest darauf, daß mein ›Liebhaber‹ mich verläßt, wie du die Frauen verläßt, und dann gibt es nur noch dich; das ist deine ganze Liebe, deine ganze Gefaßtheit, deine ganze Großzügigkeit ... Ach Rolf«, sagte sie wieder, »das ist doch alles Unsinn!« – »Und worin siehst du den Sinn?« fragte Rolf, aber wieder klingelte sein Telefon, und er mußte zum Schreibtisch gehen. »Ich weiß nicht«, sagte Sibylle, »warum ich dir all dies sage –« Rolf nahm den Hörer ab; es war die Sekretärin, die, wie verpflichtet, den Herrn Staatsanwalt auf die Verhandlung aufmerksam machte, auf eine sogenannte Rechtsbelehrung für die Geschworenen. »Ich will dich nicht länger aufhalten«, sagte Sibylle und sah ihm zu, wie er seine Mappe mit einigen Akten füllte. »Bist du mir böse?« fragte sie, »warum antwortest du mir nichts?« Rolf suchte seinen Kugelschreiber auf dem Tisch, dann in den Taschen, dann wieder auf dem Tisch. »Ich verstehe«, sagte er, »du bist also enttäuscht, daß ich dirnichts verboten habe –« Sein Lächeln zeigte an, daß er sich bemühte, die Sache komisch zu finden. »Nein«, sagte Sibylle, »du hast mir wirklich nichts zu verbieten, Rolf, das ist ja das Armselige, du hast immer bloß ein Verhältnis mit mir gehabt, genau genommen, daher auch gar kein Recht, mich zu hindern, wenn ich ein anderes Verhältnis habe –« Inzwischen hatte Rolf seinen Kugelschreiber gefunden, und ihrem Abschied stand nichts mehr im Wege. Rolf hatte die Hand auf der Klinke; wäre es wirklich ihr Rolf gewesen, sie wäre ihm um den Hals gefallen, um zu weinen. Es war nicht Rolf, es war eine Maske, die ihr lächerlich vorkam. »Du mußt tun, was du für richtig hältst«, sagte er nochmals, öffnete die Türe und ließ sie durchs Vorzimmer gehen, begleitete sie höflich zum Lift –
Nun mußte sie also nach Pontresina.
Pontresina empfing sie mit leichtem Regen und mit einem Schrecken, als hätte Sibylle auf ihrer ganzen Fahrt nicht einen Atemzug lang damit gerechnet, tatsächlich in Pontresina anzukommen. Pontresina bestand darin, daß der Zug einfach nicht mehr weiterfuhr; schlimmer noch: um diese Zeit fuhr auch kein Zug mehr zurück. Sibylle kam sich wie in einer Falle vor. Außer ihr waren nur zwei Einheimische ausgestiegen. Sie überließ sich irgendeinem Portier in grüner Schürze, der ihre Koffer und ihre Skier auf einen Schlitten geladen hatte: Sibylle folgte in matschigem Schnee. Das verrückte Plakat – es hätte ebensogut ein Plakat von Capri sein können oder von einem Nordsee-Bad! – hatte natürlich Februar oder März gemeint, nicht November. Der Portier behauptete zwar, in der Höhe gäbe es ordentlichen Schnee. Was
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