Stiller
komisch!« findet Sibylle noch heute: »Ihr mit eurem Ernst! Für Stunden oder Tage, mitunter für ganze Wochen, könnte man meinen, ihr wünscht nichts anderes als die Nähe einer geliebten Frau, besinnungslos sucht ihr diese Nähe, scheut euch vor nichts, so möchte man glauben, vor keiner Gefahr, vor keiner Lächerlichkeit, schon gar nicht vor Grausamkeit, wenn euch jemand im Wege steht, es gibt nur die Frau, scheint es, die geliebte Frau – und dann, im Handumdrehen, ist es ganz anders, plötzlich zeigt sich, daß halt eine Sitzung doch wichtig ist, so wichtig, daß sich alles danach richten muß. Plötzlich werdet ihr nervös, findet die Frau eine zärtliche Klette. Ich weiß! Ich kenne sie, diese läppische Rücksicht auf lauter fremde Leute, bloß nicht auf die Frau, die euch liebt. Ihr mit eurem Ernst des Lebens! Eine internationale Juristen-Konferenz, der Konservator einer Kunsthalle, plötzlich gibt es wieder Dinge, die man unter keinen Umständen versäumen darf! Und wehe der Frau, die das nicht versteht oder gar lächelt! Und dann, im Handumdrehen, seid ihr wieder wie der kleine Hannes bei einem Gewitter. Ist es nicht wahr? Diese gleichen Männer, da kommen sie und müssen den Kopf an unsere Schulter legen, um nicht zu verzweifeln, um zu spüren, daß sie in dieser ernsten Welt nicht ganz und gar verloren, mit allen ihren Staatsanwaltschaften und Ausstellungen nicht ganz und gar überflüssig sind ... Weiß der Himmel«, lacht sie, »ihr seid mir eine Gesellschaft!«
– – –
Eines Tages, Ende September, sagte Stiller am Telefon: »Mach dich bereit, wir fahren nach Paris.« Sie traute ihrem Hörer nicht. »Ist das dein Ernst?« Antwort der munteren Stimme: »Warum nicht?« Halb noch im Zweifel, ob Stiller nicht scherzte, halb schon in heiterem Ernst fragte sie »Wann?« Antwort der munteren Stimme: »Morgen, heute, wann du willst.« (Die Züge nach Paris kannten sie ja auswendig; da gab es eben diesen Nachtzug mit Einfahrt im ersten Morgengrauen durch die Vororte von Paris, dann Frühstück mit den frühen Arbeitern in einer Bar bei der Gare de l’Est. Café und Brioches, anschließend Bummel durch die großen Hallen voll Gemüse und Fisch – und plötzlich, wie im Zaubermärchen, war all dies zu haben?) »Ich komme sofort zu dir!« sagte Sibylle, aber das gingnicht so ohne weiteres, denn am Vormittag hatte Stiller nochmals seinen Konservator im Atelier, am Nachmittag mußte Sibylle mit ihrem kleinen Hannes in den Zirkus gehen. »Also nach dem Zirkus!« sagte sie und legte den Hörer auf, benommen wie jemand, der einen Preis gewonnen hat, leer vor Glücklichkeit ...
Endlich schien es vorwärtszugehen!
»Wie ist das nun«, fragte Rolf beim schwarzen Kaffee, »wir müssen die Möbelwagen bestellen, wann paßt es dir? Ich denke ja nicht daran, diesen ganzen Umzug allein zu machen. Bist du nächste Woche hier?« Sibylle begriff sein Drängen durchaus, wie lästig es ihr auch war. »Jaja«, sagte sie, »ich weiß, aber das kann ich heute noch nicht sagen.« – »Wann denn?« – »Morgen!« – »Warum so nervös?« – »Ich bin nicht nervös«, erwiderte sie, »wieso soll ich nervös sein?« Sibylle hatte gehofft, sie könnte ihre Entscheidung reifen lassen; nun war’s plötzlich ein Ultimatum von vierundzwanzig Stunden! Schließlich ging es um alles, was ihr auf dieser Welt wichtig war, um Stiller, um Rolf, um Hannes, es ging um ein Leben, das noch gar nicht geboren war, um lauter Menschen, denen ihr Herz verbunden war, es ging um sie selbst, es ging darum, ob Sibylle imstande sein würde, ihr Leben selber zu wählen. Darum ging es! Und morgen sollte Rolf es wissen, um die Möbelwagen bestellen zu können, morgen beim schwarzen Kaffee ... Die Kinder-Vorstellung im Zirkus (so sagt sie) war alles andere als eine Zerstreuung für sie, im Gegenteil, gerade hier fällte sie ihren Entscheid: für Paris, für Stiller, für das Wagnis. Bei Tageslicht, fand Sibylle, sieht so ein Zirkus viel schäbiger aus, geradezu rührend, überall sieht man die Schadhaftigkeit des Pompes; um so holder ist das Licht unter dem besonnten Zelt, ein Licht wie Bernstein, dazu die Estraden voll kunterbunter Kinder mit dem Geschwirr ihrer Stimmen, dazu Blechmusik, Gestank von Tieren, ab und zu Gebrüll wie aus dem Urwald. Sibylle fand es herrlich. In Paris, dachte sie, würde es schon irgendeine Arbeit für sie geben, irgendeine, das gehörte zum Wagnis. Sibylle hatte keine Angst. Der Clown, der die Vorstellung eröffnete,
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