Stiller
sollte Sibylle im Schnee? Was sollte sie in diesem altmodisch erstrangigen Hotel? Eine halbe Stunde lang, ohne ihren Pelzmantel auszuziehen, der jetzt sozusagen ihre letzte Behausung darstellte, saß sie auf dem Bett, hörte einen blechernen Lautsprecher, Donau-Walzer über einem menschenleeren Eisplatz unter Scheinwerfern. Später ging sie hinunter in die Bar, bestellte sich einen Whisky, rettete sich in einen Flirt mit irgendeinem Herrn, der zufällig Franzose und somit geistvoll war ...
Eine Konfrontation mit Wilfried Stiller, dipl. Landwirt, ist auf Freitag in einer Woche angesetzt: »eventuell mit gemeinsamem Besuch an dem Grab der Mutter«, wie ich aus der Kopie erfahre.Das Ende scheint häßlich gewesen zu sein, und ihr Abschied von Stiller – wir können noch so deutlich einsehen, daß eine Sache zu Ende ist; der Abschied muß ja dennoch vollstreckt werden! – ging leider (so sagt Sibylle) nicht ohne schwere Demütigungen, nicht ohne Erniedrigung auch ihrer selbst.
Ich protokolliere:
Sibylle, damals noch eine leidenschaftliche Sportlerin, tummelte sich in Pontresina und war nur froh, daß Stiller, von seinem Paris zurück, kein Geld hatte, um ihr nachzureisen. Dafür bedrängte er sie mit Anrufen derart, daß der Concierge in ihrem Hotel, bald genug im klaren über die Unerwünschtheit dieser Anrufe, jedesmal schon mit einer Grimasse des Beileids kam, um ›Zürich‹ zu melden. Die nur halb bewußte Hoffnung, es könnte Rolf sein, hinderte sie daran, sich einfach verleugnen zu lassen; auch ging ihr diese unverschämte Concierge-Diskretion denn doch zu weit. »Leider nicht!« hörte sie den Concierge sagen, »Frau Doktor ist eben hinausgegangen, ja, gerade in diesem Augenblick!« und sie stand in der Halle, sah die Miene dieses Edel-Zuhälters, der wohl mit einem Trinkgeld für besondere Abwehrdienste rechnete, und ging in die Kabine, um Stiller anzurufen. Nun war aber Stiller, scheint es, damals von allen guten Geistern verlassen. Wütend schon, weil er bei Carola, dem italienischen Dienstmädchen, ihre Adresse hatte erbetteln müssen, gab er Töne von sich wie ein Pascha. Was sollte Sibylle ihm sagen? Daß sie Schnee hätten, jaja, ganz ordentlich, nein, heute sogar Sonne, ach ja, sehr nette Gesellschaft, und dann plauderte sie von tollen Fortschritten in der Ski-Schule, von Rücklage und Vorlage, von Schwung aus den Hüften und so fort. Sibylle plapperte wie ein Backfisch: von einem ›himmlischen‹ Tänzer, jaja, der Franzose, von ›toller‹ Stimmung, ihr Zimmer war ›süß‹, die Piste war ›maximal‹, ach nein, nicht nur der Franzose wollte sie heiraten, eigentlich alle, eine ›fidele Bande‹, wirklich, und ihr Ski-Lehrer, ein Bündner, war ›einfach goldig‹. Ab und zu, während Stiller schwieg, kam die Stimme: »Drei Minuten sind vorbei, wollen Sie bitte den angezeigten Betrag einwerfen. Drei Minuten sind vorbei, wollen Sie bitte –«, und Sibylle warf ein, als wäre das Gespräch noch nicht kindisch genug. Der Teufel ritt sie, das war ein ganz schnurriges Gefühl, fand sie, jedenfalls ein Gefühl, das viele andere Gefühle verdrängte, und vor nichts hatte Sibylle jetzt solche Angst wie vor ihren wirklichen Gefühlen ...
Rolf, ihr Gatte, blieb stumm.
Als Stiller dann eines Tages persönlich in der Hotelhalle stand, um zu erfahren, was nun eigentlich los wäre, hatte er offenbar nicht Kraft genug, diese ganz und gar verworrene Frau aus ihrem kindischen Ton zu befreien; Stiller ließ sich von diesem falschen Ton verletzen, und damit war Sibylle, die Hilflose, auf eine unbarmherzige Weise überlegen. Es muß wie eine Mechanik gewesen sein; kaum spürte sie, daß dieser Mann sich selber leidtat, konnte sie nicht umhin, ihn zu verletzen. Sie spazierten über die Ebene gegen Samaden, Sibylle in schwarzer Keilhose, elegant, sportlich, von der Sonne gebräunt, während Stiller seinen ewigen GI-Mantel trug und bleich war wie alle Gesichter aus dem Unterland. »Was macht deine Ausstellung?« fragte sie. »Ist deine Bronze jetzt gegossen?« Ihr übermütiger Ton machte ihn stumm und stumpf. Es fiel ihm einfach nichts ein. Da war denn ihr Herr aus Düsseldorf, ein Tausendsassa voll Kampfflieger-Anekdoten von der Ostfront und von Kreta, schon amüsanter als Stiller! Sie sagte es ihm rundheraus. »Und ich sage dir«, berichtete Sibylle, »wie der zu leben weiß! Der findet das Geld auf der Straße ...« Und Stiller mußte sich anhören, wie imposant es ist, wenn ein Mann viel Geld
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