Stiller
nahm die Kinder offenbar für dumme Erwachsene, sein Erfolg war spärlich, und der kleine Hannes, zum erstenmal im Zirkus, starrte ohne Lächeln auf den blöden Mann, nur schadenfroh, wenn er stolperte, und wollte nicht, daß der wiederkäme. Sibylle sollte es ihm sagen, dem Clown, daß er nicht wiederkäme. Dann aber die Sprünge der Tiger! Peitschenknall und heiseres Gefauch, Sibylle war fasziniert, und für Minuten vergaß sie sogar Paris, während Hannes an einem Zuckerzeuglutschte und fragte, warum die bösen Tiere denn immer durch die Reifen springen müßten. Er sah keinen rechten Zweck dabei. Seehunde hingegen entzückten ihn, und zu allen Entscheidungen, die Sibylle jetzt zu fällen hatte, sollte sie auch noch wissen, ob sie nicht ein Seehund sein wollte. Beim Walzer der Pferde wollte Hannes nach Hause gehen. Sibylle hätte durchaus schon jetzt zu Stiller gehen können. Sie tat es nicht. Noch nicht! Und einmal, wie gerade sieben Männerleben an dem lächelnden Gebiß eines Trapez-Mädchens hingen, entdeckte Hannes durch die Estrade hinunter einen schmutzigen Mann in Stiefeln, der allerlei Hunde mit putzigen Röcklein, mit schwarzen Fräcklein und mit weißen Brautschleiern verkleidete, und die Hunde konnten es kaum erwarten. Fortan mußte Sibylle ihren kleinen Hannes auf die Knie nehmen, damit er nicht zwischen den Gerüsten hinunterfiele. Sie hatte damals, scheint es, schon ihre Gewißheit. Dabei war sie ganz und gar bei den kitzligen Darbietungen auf den blinkenden Trapezen. Irgendwie, dachte sie, würde es schon gehen. Plötzlich jauchzten die Kinder ringsum wie aus einer einzigen Kehle: das silberne Trapez-Fräulein hatte ihre himmlische Schaukel soeben mit einem Salto mortale verlassen, wippte im großen Netz, und siehe da, sie hatte ihr Genick nicht gebrochen, und das Orchester schmetterte Verdi. Pause! Hannes wollte ebenfalls hinausgehen wie alle anderen Kinder, Sibylle aber saß wie gebannt: Eine kostümierte Person, die offenbar auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdiente, verkaufte Schokolade, und das war für Sibylle wohl die größte Attraktion jenes Nachmittags: eine unabhängige Frau –
Kurz vor sieben Uhr, nachdem sie Hannes ordentlich nach Hause gebracht hatte, war sie bei Stiller, der in seinem Atelier wie ein Rohrspatz pfiff, den Koffer mit den Scharnieren hervorgezogen hatte und bereits packte. Mit der Reise nach Paris, natürlich war es ihm Ernst. Warum kam Sibylle ohne ihr Gepäck? Nun stellte sich allerdings heraus, daß Stiller ›ohnehin‹ nach Paris fahren mußte, nicht heute, nicht morgen, aber bald, nämlich einer Bronze wegen, die nur in Paris gegossen werden konnte und für die kommende Ausstellung, wie auch der Konservator fand, durchaus unentbehrlich war. Und Julika? Er hatte einen so prächtigen Vorwand, nach Paris zu fahren, und Julika hatte keinen Anlaß, sich aufzuregen und ihre Fieberkurve zu steigern wegen dieser Reise. Sibylle begriff. Sie sagte ganz einfach:
»Nein.«
Stiller war gekränkt.
»Ich fahre –«
»Ja«, sagte sie. »Tu das.«
Er fand sie komisch. Nun hatte man seit Monaten von diesem Paris geredet und geträumt, und jetzt –
»Tu das«, sagte Sibylle, »fahre –!«
Stiller fuhr (er mußte ja ohnehin) in der Hoffnung, Sibylle würde ihre Laune schon bereuen und nachfahren. Seine Hoffnungen interessierten Sibylle nicht mehr. Am anderen Tag beim schwarzen Kaffee sagte sie zu Rolf: »Ich fahre nicht nach Paris.« Rolf gab sich Mühe, auch in der Freude seine bemerkenswerte Gefaßtheit nicht zu verlieren. Dann sagte sie: »Aber ich fahre für eine Woche zu meiner Freundin nach St. Gallen.« Und jetzt, siehe da, flog das Täßlein an die Wand. Als Sibylle allein war, nahm sie das Telefonbuch auf die Knie, drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher, suchte die Nummer des Arztes, des einzigen, der dafür in Frage kam, und stellte die Nummer sogleich ein, wartete, ohne ihr Herz klopfen zu hören. Sie war verwirrt nur über ihren Gleichmut. Es mußte sein, je rascher, um so besser.
– – –
Rolf glaubte natürlich nicht einen Augenblick lang an die Freundin in St. Gallen. Er kam sich betrogen vor, zum Narren gehalten, und damit war es für ihn zu Ende. Die unselige Begegnung in seinem Büro – nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus – wurde von seiner Frau natürlich etwas anders erlebt, als Rolf, mein Staatsanwalt, sie dargestellt hat; nicht von ihr (so versicherte Sibylle) ging das verstockte Schweigen aus, sondern von ihm.
Ich
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