Stiller
Verachtung, als wüßte er, was Stiller, der Gute, noch nicht im mindesten ahnte. Wie würde Stiller es aufnehmen, ihr Geständnis, das ihr selbst, sobald sie es in Worte zu fassen versuchte, einfach unwahrscheinlich vorkam, unglaubwürdig, monströs! Sibylle wunderte sich, daß sie ihm hatte in die Augen blicken können – sie konnte es ohne weiteres, auch als Stiller wieder zurückkam und sich neben sie setzte, fröhlich vor Hunger, wobei es ihn in keiner Weise störte, daß Sibylle, da sie ihrerseits ja schon gegessen hatte, nur einen Kirsch trank. Irgendwo bei Bergün war eine Lawine niedergegangen, hörte man von dem Bahnarbeiter. Aber das Gerücht übertrieb; Stiller hatte die erwähnte Lawine gesehen und unterrichtete die etwas wichtigtuerischen Männer mit ihren Brissagos in den braunen Gesichtern, daß die Straße bereits wieder frei wäre. Sibylle war überrascht und irgendwie entzückt, erleichtert, als sie diese jassenden Männer am anderen Tisch, die für sie etwas Bedrohliches hatten, von Stillers gelassener Sachlichkeit entwaffnet sah: Sibylle fühlte sich beschützt. Und auch der Bahnarbeiter an ihrem Tisch hatte aufgehört, Sibylle mit verächtlichen Blicken zu mustern; er gab sogar den Aschenbecher herüber, ungebeten. Und später, nachdem er sein Bier bezahlt hatte, nahm er die Mütze vom Kopf und wünschte Stiller und Sibylle einen Guten Abend ›miteinander‹. Einmal fragte der essende Stiller: »Ist etwas los mit dir?« – »Warum?« – »Du bist heute sehr still.« – »Ich bin froh«, sagte Sibylle, »daß du gekommen bist. Ich war so wütend auf dich, ich dachte, du bist einfach verschwundenund läßt mich hier sitzen.« Sie hob die schnurrende Katze von ihrem Schoß, ließ sie auf den Boden springen, wo sie den Schwanz stellte. »Warum hast du mir kein Zeichen hinterlassen?« sagte Sibylle, »ich habe etwas Dummes getan, mußt du wissen, etwas sehr Dummes ...« Stiller aß weiter und schien nichts Ernsthaftes zu erwarten. Er war in Davos gewesen, hatte sich von der kranken Julika geschieden; was hätte ihn jetzt noch schrecken können! Er lächelte: »Was ist es denn?« Aber nun kam die dicke Wirtin mit Kaffee in zwei Gläsern, und Sibylle war erleichtert. Sie hatte ja gar nicht davon reden wollen! Es gibt ja doch Dinge, die einmal geschehen sind und dennoch nicht gelten, und wenn sie ausgesprochen sind, dann gelten sie, und dabei ist es gar nicht wahr, sie brauchten gar nicht zu gelten! Der schwarze Kaffee in den Gläsern war wie befürchtet, nämlich bitter, heiß, so daß man sich die Zunge verbrannte, und zugleich unwahrscheinlich fade, alles eher, als Kaffee; sie versuchten, ihn mit Humor und mit viel Zucker zu retten, doch der Zucker machte diese braune und graue Brühe vollends eklig. Nun erzählte er von Paris. Warum versank sie nicht in den Boden? Sie tat, als hörte sie ihm zu. Träumen wir nicht oft, ohne deswegen am anderen Tag in den Boden zu versinken, etwas Monströses? So und nicht anders, wie einen monströsen Traum, kaum anders empfand es Sibylle, wenn sie an die vergangenen zwei Nächte dachte ... »Übrigens habe ich dir etwas mitgebracht!« unterbrach Stiller seinen Paris-Bericht. »Wo habe ich’s nur?« Sibylle füllte unterdessen ihre Gläser mit Veltliner. »Du kennst doch diese Parfümerien bei der Vendôme?« lachte Stiller und erzählte die Geschichte, wie er ihr Parfüm gesucht hatte: – Die Place Vendôme, bekanntlich ein großes Geviert mit Arkaden, ist die Hochburg der französischen Parfümerie, jede Firma hat dort ihren eigenen Laden, und also mußte man schon die Marke des gesuchten Parfüms kennen, sonst muß man von Firma zu Firma, um sich die Finger betupfen zu lassen; Stiller hat sich eingebildet, er würde ihr Parfüm unter hunderten herausriechen. Die Demoiselles sind reizend, tupfen sich auf ihre eigene kleine Hand, da Stiller keinen freien Finger mehr hat. Natürlich wird er immer unsicherer! So geht er denn um die ganze Place Vendôme herum, von Firma zu Firma, von Hand zu Hand, von Duft zu Düften. Sie lachen ihn keineswegs aus, die Demoiselles, im Gegenteil, sein sorgsamer Ernst entzückt sie, wiewohl sein Französisch nicht ausreicht, um Düfte zu beschreiben. Stiller notiert sich die Namen. An seinem rechten Zeigefinger, zum Beispiel, hat er Scandale. Aber im Laufe des Nachmittags,seines letzten Nachmittags in Paris, kommen ihm auch die Namen durcheinander; er kann nur noch seinen Finger hinhalten: Celui là! Und manchmal haben sogar die
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