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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Demoiselles etwas Mühe zu unterscheiden, sie müssen den Patron rufen. Einmal erinnert ihn jedes Parfüm, das es überhaupt gibt, an Sibylle, dann wieder gar keines. Und es ist toll, was es alles gibt; seine Hände sind zwei Paletten voller Düfte, und Stiller geht mit gespreizten Fingern, damit sie sich nicht vermischen. Was liegt in der Nuance, ach, welche Seligkeit und welche Qual! Und dann, zu allem Überfluß, wollen die Demoiselles wissen, ob das Parfüm, das er sucht, für eine blonde oder für eine schwarze Dame sei oder gar für eine Rothaarige? Das ist nicht einerlei, o nein, und auch dies hat Stiller nicht gewußt, daß das gleiche Parfüm auf einer anderen Haut wieder ganz anders zu duften beliebt. Was also nützen ihm diese Demoiselles mit allen Proben auf ihrer fremden Haut? Kurz vor Ladenschluß gibt er’s auf. Abends bei Jouvet (›Ecole des femmes‹) vergißt er die Angelegenheit beinahe, so herrlich ist dieser Jouvet; aber seine Hände haben ihn ja nicht verlassen, und in der Pause fängt Stiller wieder an, von Finger zu Finger zu schnuppern. Und auf dem Heimweg wieder: mitten auf der Straße bleibt er stehen, zieht seine Handschuhe aus, um zu schnuppern. Seine Nase ist wieder frisch, aber nun ist nichts mehr zu unterscheiden von Finger zu Finger, alles ist eins, insofern hoffnungslos. Schließlich wäscht er sich die Hände und ist so klug als wie zuvor. Am andern Morgen, kurz vor Abfahrt seines Zuges, geht er, kauft auf Gottvertrauen ... »Ich habe keine Ahnung, ob’s das richtige ist!« sagte Stiller etwas verlegen, als er endlich das kleine, ehemals elegante, vom langen Aufenthalt in seiner Hosentasche etwas verschlissene Paketlein überreichte, damit Sibylle es öffnete. »Iris Gris!« lachte sie. »Ist es das richtige?« fragte er, während Sibylle sofort das Fläschlein öffnete, sich ein paar Tropfen auf dem Handrücken verrieb. »Iris Gris finde ich herrlich!« sagte sie, und Stiller schnupperte an ihrer Hand, nun also an der Original-Hand, von Atemzug zu Atemzug enttäuschter. »Nein«, sagte er, »das ist es nicht!« Sibylle schnupperte ebenfalls. »Aber ist das nicht herrlich?« tröstete sie, ohne sich verstellen zu müssen, und steckte das Fläschlein in ihre Tasche: »Ich danke dir!« Kurz darauf zahlte Stiller, und sie leerten ihre Gläser, ohne irgendwie vereinbart zu haben, ob Sibylle nun in ihr Hotel zurückginge oder nicht. Was dachte er sich? Stiller schien ganz und gar entschieden zu sein, aber in welchem Sinn? »Trink aus!« sagte er ohne Ungeduld, indem er zwar noch saß, ihren Pelzmantel aber bereits vom nahenHaken genommen hatte. »Es ist nicht wichtig«, meinte Sibylle, »aber ich muß es dir sagen. Es ist wirklich nicht wichtig –« Seine geringe Neugierde erschwerte es noch, die richtigen Worte zu finden; Stiller schien noch immer nichts zu vermuten, überhaupt nichts. Oder wußte er’s schon und nahm es wirklich nicht wichtig? »Ich bin eine Gans«, lächelte sie, »ich habe mich gerächt, siehst du, auf eine so läppische Art gerächt, zwei Nächte mit zwei verschiedenen Herren –« Stiller schien nicht zu hören, nicht zu verstehen, er schwieg und zuckte nicht einmal zusammen, und dann kam die dicke Wirtin mit dem gewechselten Geld zurück, wollte bei dieser Gelegenheit noch wissen, ob sie das Frühstück für die Dame und den Herrn ins Zimmer bringen sollte oder nicht. Sie ging nicht vom Tisch weg, um gastfreundlich zu sein. Fast zehn Minuten dauerte die zähe Unterhaltung über Lawinen, über Wetter ganz allgemein, über Hotellerie nach einem Weltkrieg. Endlich wieder unter vier Augen fragte Stiller mit ihrem Pelzmantel auf seinen Knien: »Was hast du damit sagen wollen?« Sibylle blickte auf den Bierteller, den er auf dem Tisch drehte, und wiederholte es mit der Klarheit, die ihr jetzt, wie immer Stiller es aufnehmen mochte, unerläßlich erschien, ihre letztmögliche Sauberkeit: »Ich habe in zwei aufeinanderfolgenden Nächten mit zwei verschiedenen Herren geschlafen – ja, das meine ich ...« Nun wußte er’s. Und die Zukunft (so meinte Sibylle) hing jetzt lediglich davon ab, wie Stiller sich zu dieser monströsen Unwichtigkeit verhielt. Die jassenden Eisenbahner warfen ihre Karten hin, einer wischte mit dem Schwämmchen über die Schiefertafel, da es nun ausgemacht war, wer zu zahlen hatte, und die Kommentare zum verlorenen Spiel, das nicht mehr zu ändern war, gingen in Gähnen über. Es war elf geworden. Schon mit ihren Eisenbahnermützen auf den

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