Stiller
›macht‹, ein Sohn aus der Schwerindustrie, der dabei so leicht zu leben versteht. »Übrigens ist er als Mann nicht mein Typ«, sagte Sibylle, und Stiller blickte sie von der Seite an, dann schwieg er weiter in seine Melancholie hinein. Höchstens sagte er einmal: »Dieses Pontresina ist ja zum Kotzen!« Sibylle hatte einen verstauchten Fuß und humpelte ein wenig. »Aber gestern habe ich schon wieder getanzt!« sagte sie. Irgend etwas reizte sie, von allem entzückt zu sein, was Stiller verachtete, und neuerdings zu erzählen, wie witzig eben dieser Herr aus Düsseldorf wäre, ein Ritterkreuzträger, wie männlich und unterhaltsam und voller Ideen, zum Beispiel, wenn er das Gefühl hat, jemanden gekränkt zu haben, schenkt er diesem betreffenden Menschen, gleichviel ob Frau oder Mann, einen Mercedes. Tatsache! Stiller sagte nur: »Ich glaub schon.« Oder ein anderes Beispiel: Da war ein junges Mädchen in ihrem Hotel, das sich in einen schwedischen Studenten verliebt hatte, und sofort hatte er die reizende Idee, der Herr aus Düsseldorf, den schwedischen Studenten hierherkommen zu lassen, und zwar per Flugzeug. »Doch einfach entzückend!« fand Sibylle, um ihrem langweiligen Düsterling zu bedeuten, daß Männer, die Geld machen, deswegen nicht ohne Charme sein müssen. Vielleicht sagte Stiller einmal: »Möglich.« Oder er fragte: »Warum erzählst du mir das?« Aber er war verwundert; er hatte kein Mittel, um Sibylle zu stoppen. Übrigens bemerkte sie aufjenem Spaziergang zum erstenmal, daß Stiller stotterte, gewisse Wörter nicht sagen konnte, Wörter, die mit M anfangen. Einmal ging ein junger Kerl vorbei, ein kaffeebraunes Gesicht mit dem weißen Plakatlachen eines bündnerischen Skilehrers; Sibylle grüßte mit Hallo, dann sagte sie: »Das war Nuot.« Er fragte mit müdem Gehorsam: »Wer ist Nuot?« Das also war der Skilehrer, der Sibylle mit ihrem verstauchten Fuß, sage und schreibe, bis zum nächsten Rettungsschlitten getragen hatte. »Ist er nicht goldig?« fragte sie. In dieser Tonart ging es weiter. Natürlich wußte Sibylle ganz genau, welche Art von Wirtschaft er sich gewünscht hätte, irgendeine ländliche Pinte mit Bevölkerung. Aber einmal vom Teufel geritten, und sie genoß dieses Gefühl, wie gesagt, wußte sie sofort etwas ›Tolles‹. Warum widersetzte sich Stiller nicht? Seine Unsicherheit beleidigte sie; sie selber fühlte sich von Stiller preisgegeben. Das war der Mann, den sie geliebt hatte? Das ›tolle‹ Restaurant war eine Orgie von Heimattümelei, wie Stiller sie nicht riechen konnte, aber bereits wurde ihnen die Garderobe von mindestens sechs Händen abgenommen, die Frau Doktor als Stammgast begrüßt; auch alles weitere, die Empfehlung eines besonderen Tischleins, die Überreichung von zwei umfänglichen Speisekarten, gedruckt im Stil der Gutenberg-Bibel, ein Oberkellner im Frack, der auf frischen Hummer hinzuweisen die Nettigkeit hatte, eine Nettigkeit mit durchaus persönlichem Ton, alles hatte genau die Mischung von Noblesse und Erpressung, die den kleinbürgerlichen Stiller, wenn er nicht gerade bei Humor war, vollkommen wehrlos machte. Auf dem Tischlein standen drei Rosen, alles im Preis inbegriffen und alles, versteht sich, bei Kerzenlicht. Stiller wagte nicht einmal vor Sibylle zu sagen, daß er die Preise grotesk fände. »Was nimmst du?« fragte Sibylle nicht ohne Mütterlichkeit und fügte hinzu: »Ich habe Geld bei mir.« Ein Weinkellner stand auch schon da, als Küfer kostümiert, und Sibylle war für ›ihren‹ Châteauneuf-du-Pape, die Flasche zu sechzehn Franken, aber bereits chambriert. »Du wirst sehen«, sagte sie zu Stiller, »dieser Châteauneuf hier ist ein Gedicht!« Sibylle hörte sich selber; der Teufel gab ihr das Vokabular einer Person, der Stiller nicht zu antworten wußte. Und dann, nachdem sie fast nur mit einem Blick ›ihr‹ Filet Mignon bestellt hatte, nötigte sie den hilflosen Stiller, Schnecken zu essen, worauf Stiller ein wenig zweifelte, ob Schnecken und Châteauneuf-du-Pape zusammenpaßten; Stiller hatte noch nie Schnecken gegessen, wie er gestehen mußte, und kam sich minderwertig vor, also zu einer widersprechenden Meinung kaum berechtigt. Also Schnecken! Und dann nickteein Herr, der nur ganz kurz, um nicht zu stören, in französischer Sprache meldete, daß er heute sein Test zweiter Klasse bestanden hätte; Sibylle gratulierte, wobei sie mit der Hand winkte, und unterrichtete Stiller, das wäre eben der ›Charles Boyer‹ gewesen.
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