Stiller
kommst du erst jetzt?« fragte sie sofort, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten; Sibylle war bestürzt. »Du hast schon gegessen?« fragte er. »Du nicht?« fragte sie zurück. Stiller war bleich vor Übermüdung, unrasiert. »Wo kommst du her?« fragte sie, und Stiller half ihr in den Pelzmantel, den ein sogenannter Boy, ein Bündnerbub in Zirkus-Livree, ihr nachgetragen hatte. »Ich habe dich vorgestern zum Frühstück erwartet!« sagte Sibylle und wiederholte ihre Frage: »Wo kommst du denn her?« Sie nickte dem Herrn aus Düsseldorf zu, der vor dem Lift gewartet hatte, mit dem Anzünden einer Zigarre beschäftigt war, ein Kavalier vongeschickter Unauffälligkeit, so daß Stiller ihn überhaupt nicht einmal bemerkt hatte, den Tausendsassa ... Stiller kam von Davos. Sie erfuhr es, als man gerade durch die Drehtüre hinaus ins Kalte ging. »Von Davos?« fragte sie, aber bereits hatte sich der gläserne Flügel zwischen sie und den nachfolgenden Stiller geschoben. »Von Davos?« wiederholte sie nach seinem Austritt aus der Drehtüre. Stiller hatte inzwischen im Sanatorium mit seiner kranken Frau gesprochen. Sein Bericht war kurz und trocken. »Das ist alles«, schloß er. »Warum bist du so erstaunt?« Es ist wahr: den ganzen Sommer hindurch hatte Sibylle es erwartet, erhofft, in Schweigen gefordert. Und jetzt war es ein Schock. Sie kam sich schuldig vor. »Und Julika?« fragte sie, »was meint denn Julika dazu?« Es schien ihn nicht zu interessieren. »Getrennt?« fragte sie, »was heißt das? Du kannst sie doch nicht einfach –« Stiller kam ihr grausam vor, unmenschlich; seine Handlung entsetzte sie. Nun plötzlich, zum erstenmal, war Julika nicht ein fernes Gespenst, sondern eine wirkliche Frau, eine kranke, unglückliche, verlassene Frau, eine Schwester. »Stiller«, sagte sie unwillkürlich, »das hättest du nicht tun sollen ...« Sie verbesserte sich: »Dazu haben wir kein Recht. Ich selber bin schuld, ich weiß. Das ist doch Wahnsinn, Stiller, das ist doch Mord ...« Stiller war unbekümmert, fast etwas schadenfroh, als er ihre Kümmernis sah. Stiller wähnte sich frei, vollkommen frei, und für den Augenblick genügte es ihm, gehandelt zu haben. »Ich habe Hunger«, sagte er und zeigte deutlich genug, daß er keine Lust hatte, weiterhin an Julika zu denken, und keinen Grund. Sie saßen in einer Wirtschaft mit Einheimischen, mit Eisenbahnern, die feierabendlich jaßten, jeder mit einer Brissago im Gesicht, und die vor dem Pelzmantel der Dame etwas verstummten, bis einer sagte: Spielen wir oder spielen wir nicht? Eine Gutenberg-Bibel-Speisekarte gab es hier nicht, dafür eine dicke Wirtin, die mit näßlicher Hand persönlich Guten Abend wünschte, dann ein paar kleine Biertümpel und Brosamen von dem lackierten Holztisch wusch. Auf einer schwarzen Tafel an der Wand, zwischen Lorbeerkränzen und Bechern eines Schützenvereins, waren die Preise der offenen Weine zu lesen. Veltliner, Kalterer, Magdalener, Dôle; darüber das übliche verblichen-farbige Bildnis von General Guisan. Stiller mit seinem Hunger war so sicher wie ein Holzfäller, der von seiner schweren Arbeit kommt, müde, hastlos, eins mit sich selbst; mit breiten Händen brach er sofort das Brot entzwei, während Sibylle auf der Bank am Kachelofen unversehens eine schnurrende Katze auf ihrem Schoß hatte, die gestreichelt werden wollte. Stiller freute sich auf Rösti und Bauernschüblig;Salat gab es hier nicht. Die jassenden Eisenbahner redeten, während einer die Karten mischte, in einem Ton manierierter Verärgerung, ohne von einem wirklichen Ärger berührt zu sein, über die kostspielige Hoffnungslosigkeit einer Vierer-Konferenz, um dann beim Spiel sogleich vor Aufmerksamkeit zu verstummen, in der niedrigen Wirtsstube ein Schweigen zu verbreiten, das sich zwanghaft auch auf Sibylle und Stiller übertrug. »Du hast mir noch gar nichts von Paris erzählt«, sagte Sibylle, die dieses Schweigen offenbar bedrängte. Als die dicke Wirtin zwar noch nicht das ersehnte Essen, jedoch den Veltliner brachte, erkundigte sich Stiller nach einem Zimmer. »Einerzimmer oder Doppelzimmer?« fragte die Wirtin, als Stiller mit ihr hinausging, um das Zimmer zu besichtigen ... Eine Weile lang war Sibylle allein, die einzige Frau in der Wirtschaft, sie blätterte in der Zeitung eines Radfahrerbundes, ohne zu lesen; ein Arbeiter hatte sich an ihren Tisch gesetzt; er leckte den Schaum von seinen Lippen und musterte die Dame mit unverblümtem Mißtrauen, geradezu mit
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