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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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quälende Erinnerung, ein leidenschaftliches Gespräch mit einem unsichtbaren Menschen, den es meistens überhaupt nicht gab, doch ich erfand ihn, um nicht allein zu sein, oder Hoffnung auf eine großartige Begegnung an der nächsten oder übernächsten Straßenecke. Heißt das Alleinsein? Ganz im Anfang meiner Künstlerei, mag sein, war ich allein, vermochte ich es beinahe, in einem wirklichen Sinn allein zu sein in der Hoffnung, in Lehm oder Gips mich verwirklichen zu können; aber diese Hoffnung währte nicht lang, und schon war der Ehrgeiz da, die Freude in Hinsicht auf Anerkennung, die Sorge in Hinsicht auf Geringschätzung, monatelang sah ich vor lauter Lehm und Ehrgeiz und Gips keinen lebendigen Menschen, verbissen in meine Kunst, die nie eine werden konnte, verkrochen in die vier Wände meines Ateliers, ein Einsiedler ohne Radio wie im Mittelalter, wortkarg wie ein Ruderer auf der Galeere, ein Mönch in bezug auf Mädchen, aber nur in bezug darauf, ein frohlockender Rumpelstilz in Gedanken daran, daß noch niemand mein Genie auch nur ahnte, und fleißig war ich wie ein gepeitschtes Tier, von Ehrgeiz gepeitscht; also war ich nicht allein. Und ich war nicht allein bei meiner Fähre am Tajo; im Falle meines Todes, ich wußte es, würde Anja nicht zusammenbrechen und nicht ins Kloster gehen, sie würde weiterhin die Lebendigen pflegen und weiterhin sich lieben lassen, aber sich mitunter an mich erinnern, und als mich dann niemand erschoß, als sie mich nur mit meinem Hosengürtel fesselten, Hände und Füße zusammen, und mich in den Ginster warfen, war ich nicht allein; ich hatte meine Schmach vor Anja, glaubte vor Durst elendiglich zu sterben und Anja nicht wiederzusehen, ich schrie, solange ich konnte, dann schrie ich nicht mehr, aber an der Schwelle der Ohnmacht hatte ich Anja, meine sengende Schmach von Anja. Und ich war nicht allein auf dem Heimweg, obschon ich die Fremdheit in der Heimat ahnte; nächtelang auf meinem Marsch, nächtelang in den Wartesälen Frankreichs rechtfertigte ich mich vor Anja, ich schämte mich vor ihr, ich empörte mich über sie und sammelte Gedanken gegen sie; ich war nicht allein. Und dann, ferne von ihr, erzählte ich meine spanische Anekdote, meine Bekannten glaubten es mehr oder weniger, aber ich wußte, wer um die Wahrheit wußte, nämlich Anja, und also war ich nicht allein. Es ist lächerlich, ja, aber wahr: Immer war da ein Weib, womit ich mich täuschenkonnte. Ich hatte männliche Freunde, nicht viele, den einen und andern; das war Freundschaft, doch keine Täuschung über unser Alleinsein als einzelne. Oft habe ich an ferne Freunde gedacht, neugierig auf ihre Gedanken oder froh um ihren Widerspruch oder auch in schmerzlichem Zerwürfnis; in den Stunden des Grauens aber, in den Stunden meiner Unfähigkeit, allein zu sein, war es stets nur ein Weib, Erinnerung oder Hoffnung um ein Weib, womit ich meinem Alleinsein entschlüpfte. Warum war ich nicht imstande, allein zu sein, und gezwungen, mich mit dieser Balletteuse zu langweilen, derart, daß ich dieses Meertier auch noch heiraten mußte? Es ging von mir aus, kein Zweifel, ich hatte immer wieder einmal so einen eisernen Willen mit verkehrter Steuerung. Und tausendundeine Nacht, mindestens, griff ich mir an den Kopf und schlief ein; nicht einmal in der Ehe konnte ich allein sein. Ich ließ sie im Stich; sie demütigte mich und ich demütigte sie; aber allein war ich nie. Und ich war nicht allein in dem Heck-Laderaum eines italienischen Frachters als blinder Passagier, ein Auswanderer ohne Papiere für Amerika; nur ein bestochener Heizer wußte damals, daß es mich gab dort unten zwischen den Fässern, und es war dunkel, stank, war heiß, so daß mir (jedem an meiner Stelle!) der Schweiß aus allen Poren rann, ich begriff sehr wohl, daß die schöne Julika sich ekeln würde vor diesem Schweiß; also war ich nicht allein. Es wäre die Chance meines Lebens gewesen, allein zu sein, eine ungestörte Chance von achtzehn Tagen und neunzehn Nächten bei meistens ruhiger See, so daß ich nicht einmal die Ausrede machen kann, damals wäre mir übel gewesen. Ein einziges Mal, wahrscheinlich kurz nach Gibraltar, hatte ich mich übergeben müssen; der Kahn stampfte ein paar Stunden lang, beruhigte sich aber wieder. Und was tat ich mit meiner Chance, so groß wie der Atlantik? Ich zündete eine Zigarette an, sah im Schein meines Feuerzeugs gerade die Anschriften der nächsten Fässer ›Chianti Italian Wine Imported‹, dann wieder

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