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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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nichts als sture Finsternis mit den paar kleinen Lichtritzen zwischen Bohlen, mit dem Gedröhn der Schraubenwelle unter mir, einerlei ob Tag oder Nacht, und man hätte wohl wahnsinnig werden können, ich wurde es nicht, denn im Geiste sah ich Julika auf ihrer Jugendstil-Veranda in Davos und sagte ihr noch den Rest. Ich war froh, diese Frau nie wiederzusehen; das war meine einzige Freude da unten. War ich allein? Jedesmal beim Erwachen aus einem längeren Schlaf hatte ich Angst, der stinkige Kahn wäre schon wieder auf der Fahrt nach Europa; es änderte nichts an meiner Entschlossenheit, die schöne Julika nie wiederzusehen. Ichbrauchte zwischen jenen stinkigen Fässern (ich hockte die meiste Zeit, denn beim Gehen im Finstern stolperte man überall an Stricken und Kranketten) nur an den Brief zu denken, den sie mir nach ihrer Ermordung auf der Veranda geschickt hatte, nur an jenen ersten Satz: Es hat wohl wenig Sinn, auf dein Gespräch von letzter Woche zurückzukommen usw.! Nur diesen ersten Satz, und ich bereute nichts, selbst wenn dieser Kahn im nächsten Augenblick auf eine Sandbank liefe, sich unversehens mit Wasser füllte. Ich brauchte nur an Foxli zu denken! Oder an die berühmte Mehlsuppe, die dieses Weib nicht zu machen geruht hatte, und an hundert andere Bagatellen, eine lächerlicher als die andere; aber achtzehn Tage und neunzehn Nächte hintereinander im Finstern, wo es irgendwo zwischen den öligen Bohlen heruntertropfte, eine Endlosigkeit mit tropfenden Minuten, sie reichte nicht aus, die Öde zwischen diesem Weib und mir auch nur im raschen Stenogramm der Gedanken zu fassen, wieder stolperte ich umher und schürfte mich an einer rostigen Planke, wieder hockte ich auf einem Bündel von Stricken und leckte das warme Blut von meiner Hand, hockte, stinkend von altem Schweiß und von neuem Schweiß, ungewaschen seit Genua, von keinem Menschen erblickt und blind wie ein Maulwurf, taub vom Gedröhn der Schraubenwelle, und keine wache Stunde verging, wo mir nicht irgend etwas einfiel gegen dieses zarte Weib in Davos, und niemand hörte meine lautesten Verwünschungen; aber allein war ich nicht. Im Hafen von Brooklyn endlich verstummte die Schraubenwelle; mein Herz klopfte. Zuerst luden sie vorne aus. Nach zehn Stunden kam endlich mein Heizer mit dem guten Rat, mich noch zwei oder drei Tage zu verstecken, denn es war Dockarbeiter-Streik. Und dann ging es fünf Tage, dazu natürlich immer die Nächte, und endlich hörte ich den vereinbarten Pfiff meines wackeren Heizers; aber ich war nicht fertig mit der Öde zwischen diesem Weib und mir. Jetzt mußte ich an Land. War ich allein in Neuyork? Ich schob mich durch das ameisenhafte Gewimmel am Times Square; wochenlang sah ich vor allem Telefonkabinen, aber ich war entschlossen, Sibylle nicht anzurufen. Und ich rief auch nicht an, sondern stieg in einen Greyhound, um westwärts zu fahren, gleichviel wohin. Es war so und so, langweilig und hinreißend, abstoßend, begeisternd. Ich sah die Prärie, die Schlächtereien von Chikago, die Mormonen, die Indianer, die größte Kupfergrube der Welt, die größte Hängebrücke der Welt, ich redete mit fremden Gesichtern in einer Milch-Bar, ich arbeitete einen Monat in Detroit, ich verliebte mich in die Tochter eines konservativen Senators,die einen Cadillac besaß, und wir badeten im Michigan-See, und ich fuhr weiter, ich sah Waldbrände, Baseball, Sonnenuntergänge über dem Pazifik und fliegende Fische, Geld hatte ich fast nie, aber ich pfiff vor Seligkeit, so ferne von Davos zu sein, etwas weniger ferne auch von Riverside Drive, Neuyork, damals hätte ich allein sein können wie auf dem Mond. Sie sagten: Hallo! und ich sagte: Hallo! Ich hörte die letzten Radio-Sprecher nach Mitternacht, bloß um nicht die Stille zu hören, denn in der Stille war ich nicht allein, also hörte ich noch lieber diese immer zuversichtlichen Reklame-Sprecher mit ihren Hinweisen auf die beste Seife, die beste Whisky-Marke, das beste Hundefutter, dazwischen Sinfonien oder doch wenigstens die Nußknacker-Suite von Tschaikowsky: damit ich nicht so allein war. Und war es nicht meine grazile Balletteuse, so war es doch ›Little Grey‹, dieses grazile Biest von einer Katze, das immerfort auf meinen Fenstersims hüpfte und mir doch nichts zu sagen hatte. Habe ich es nicht irgendwo in diesem Haufen Papier schon aufgeschrieben? Ich nahm sie, steckte sie eines Abends in den Eisschrank, dann versuchte ich zu pfeifen und später zu schlafen, jedoch

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