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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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vergeblich, nach wenigen Stunden holte ich sie aus dem Eisschrank, wohl wissend, daß ihr Tod mich dann doch beschäftigen würde, und ich war, wie sie nach einer Weile ihre Augenschlitze etwas öffnete, zu Tränen gerührt, daß sie mir ihren Tod im Eisschrank nicht angetan hatte; ich pflegte sie, bis sie wieder zu schnurren anfing und um meine Hosenbeine streifte, aber wenigstens lebte sie, wenn auch mit der Miene einer Siegerin, ohne daß sie mir auch jetzt etwas zu sagen hatte, und dann, wie sie mein schlechtes Gewissen ausnützte, warf ich sie halt doch wieder in die übrigens nicht kalten Nächte hinaus, wo sie den Schwanz hißte und fauchte, ich schloß das Fenster, sämtliche Fenster, sie sprang von außen auf den Sims und fauchte, als hätte ich sie wirklich umgebracht, ich tat eine Weile, als sähe ich sie nicht, als hörte ich ihr Miauen nicht, womit sie mich in der Nachbarschaft (vor allem bei Florence, der Mulattin) verschrie. Genug! sagte ich laut, ging ans Fenster, nahm sie hinten am Hals und schleuderte sie als zappelndes Bündel so weit wie möglich. Nach Katzenart fiel sie auf die Füße. Zu meinem Erstaunen schwieg sie sogar, hüpfte auch nicht wieder auf meinen Fenstersims; ich wartete darauf. Sie ließ mich allein, zugegeben, doch wußte ich in jedem Augenblick, daß sie in jedem Augenblick wieder auf meinen Fenstersims hüpfen könnte; also war ich nicht allein. Bin ich es denn jetzt? Ich denke an Frau Julika Stiller-Tschudy in Paris. Ich sehe sie in ihrem schwarzenTailleur, das ihr so vortrefflich steht, und ihrem weißen Hütchen auf rötlichem Haar. In Paris wird es jetzt kühl sein. Sie hatte im Sinn, einen neuen Mantel zu kaufen. Ich sehe sie (obgleich ich mich in den Modellen dieses Herbstes gar nicht auskenne) in ihrem neuen Mantel, der ihr wieder vortrefflich steht. Es mag sein, ich verliebe mich sehr leicht; aber wenn ich so in meiner Zelle hocke und an diese Frau Julika Stiller-Tschudy denke, so ist es doch mehr als Verliebtheit; ich fühle es an meiner hoffnungsvollen Bedrücktheit, Frau Julika Stiller-Tschudy ist ja doch meine einzige Hoffnung. Jetzt einmal abgesehen von ihrem kupfernen Haar, von ihrem Alabaster-Teint, von ihren grünlichen oder wassergrauen oder vielleicht auch farblosen, jedenfalls ungemein schönen Augen, einmal abgesehen von alledem, was jedermann und sogar mein Verteidiger sehen kann, ist diese Frau (was immer ihr verschollener Stiller gegen sie vorzubringen hätte) eine großartige Frau, nicht leicht zu lieben, mag sein, eine Frau, die noch nie geliebt worden ist und noch nie geliebt hat. Und darum, vermute ich, schreckt es mich in keiner Weise, was sie und Stiller zusammen erlebt haben. Was geht es mich an! Ich will jetzt nicht hochfahrend sein und behaupten: Ich liebe sie! Aber das darf ich sagen: Ich möchte sie lieben. Und vorausgesetzt, daß Frau Julika Stiller-Tschudy mich nicht für ihren verschollenen Gatten nimmt, wage ich zu sagen: Warum soll es nicht möglich sein? Sie wird in diesen nächsten Tagen zurückkommen, laut ihrer etwas kurzen und verhaltenen Karte, in einem Pariser Herbst-Modell. Ich werde ihr gestehen, daß alles nicht wahr ist: Ich bin nicht fähig, allein zu sein, ich habe es versucht, jedoch vergeblich. Und offen heraus: daß ich sie vermißt habe. Das ist nicht übertrieben gesprochen. Und dann, so bald als möglich, werde ich sie fragen, ob sie glaube, daß sie mich lieben könnte. Ihr Lächeln, ihre Erstauntheit in den rasierten Augenbrauen und so, all das soll mich nicht erschrecken; Frau Julika Stiller-Tschudy ist nun einmal so. Mit achtzehn Jahren eine Waise, ein Viertel ungarisch, drei Viertel deutschschweizerisch, eine Tuberkulose, die sich als faktisch erwiesen hat, dann die Ehe mit jenem neurotischen Spanienkämpfer, das alles war ja auch nicht leicht, ihre Kinderlosigkeit, ihre Kunst, und wie dieser Mensch durch alles hindurchgegangen ist, nicht ohne Selbstmitleid, gewiß nicht, nicht ohne eine grazile Art von Bösartigkeit, aber stets mit einem aufrechten Kopf auf ihren schmalen Schultern, das ist schon großartig; ein wenig Hochmut (in der spezifisch weiblichen Manier, nämlich als Hang zum ›Verzeihen‹) ist nur zu begreiflich. Meine offene Frage, ob sieglaube, mich lieben zu können, wird als Antwort kein mädchenhaftes Ja bekommen. Dazu ist Frau Julika Stiller-Tschudy zu erfahren, so wie ich auch, diese Zelle mit Pritsche ist auch nicht ein grünes Plätzchen unter blühenden Apfelbaumzweigen. Hoffentlich werde ich

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