Stiller
nahen Münsters. Einer Hochzeit wegen, ich sehe es nicht, oder einer Abdankung wegen; jedenfalls dröhnt es entsetzlich. Eine Wolke von Tauben schwirrt über uns hin. Aus der Nähe vernimmt man überhaupt keinen Klang, nur ein metallenes Beben in der Luft, Lärm von Klöppeln, als müßten sie unser Trommelfell zertrümmern. Wir verlassen die Zinne, und wie wir, um dem Geläute etwas zu entgehen, ins Atelier treten, stehen sie bereits da: – Julika und mein Verteidiger, der ihr eben den neuen Pariser Mantel abnimmt. Trotz sofortiger Schließung der Fenster ist an ein Gespräch nicht zu denken. Julika ist entzückender als je. Wir begrüßen uns sofort mit Kuß. Auch daß Julika ihr herrliches Haar wieder etwas blonder trägt, unauffälliger, wie es sich für Zürich gehört, entgeht mir nicht, bestärkt mich in meiner Zuversicht, daß sie sich wohl von Paris undMonsieur Dmitritsch endgültig verabschiedet hat. Etwas seltsam, gewiß, berührt mich das Hundchen, das Julika, eben weil sie wohl nicht mehr nach Paris zu gehen gedenkt, hierhergebracht hat; es ist wieder ein Fox. Ich streichle es, da man ohnehin, wie gesagt, des fürchterlichen Geläutes wegen nicht sprechen kann. Alle zünden sich Zigaretten an. Julika holt Aschenbecher in der Art einer Gastgeberin, bittet mit Geste, Platz zu nehmen. Es ist aber einfach viel zu staubig. Meine Neugierde, was nach dem Verstummen des Geläutes gespielt werden soll, macht mich ebenso gespannt wie heiter; die Komik, scheint mir, müßte mit einem Schlag, wenn wir sie bloß mit einem Schlag begreifen, alles lösen. Mein Verteidiger, wie immer in seiner Ledermappe kramend, vereinigt natürlich am meisten Komik auf sich, gerade weil er keine Komik gewahrt. Das Geläute findet kein Ende. Knobel bemüht sich, nicht vorhanden zu sein, und Rolf, mein Staatsanwalt, nimmt so langsam seinen Mantel von dem Nagel; es ist nicht sein Fehler, daß die Herrschaften (wahrscheinlich wegen Foxli) so spät gekommen sind. Endlich, als wir uns an diese Pantomime bereits zu gewöhnen anfangen, hat das Münster ausgebimmelt ...
»Nun –?« fragt Julika.
Julika scheint erwartet zu haben, mein Geständnis liege bereits vor, und als der Staatsanwalt verneint, im übrigen sich leider verabschieden muß, setzt Julika sich auf die verstaubte Couch, wie von einer schlimmen Depesche getroffen. Mein Verteidiger weiß nicht, wen er anstarren soll, den Staatsanwalt oder mich. Vermutlich hat die enttäuschte Julika jetzt schon zu weinen begonnen; indessen bemerken wir es noch nicht. Mein Verteidiger versucht ohne Erfolg, den Staatsanwalt zu halten. Im Augenblick, da er mir die Hand gibt, habe ich das Gefühl, mein neuer Freund lasse mich im Stich; bald genug habe ich jedoch begriffen, daß er dieser ungeheuerlichen Veranstaltung, die er hinwiederum meinem amtlichen Verteidiger nicht versagen konnte, gerade als Freund unter keinen Umständen hat beiwohnen wollen – Als ich sehe, daß die schöne Julika weint, frage ich: »Liebst du mich?«
Mein Verteidiger will reden –
»Ich frage die Dame«, unterbreche ich und setze mich neben Julika auf die verstaubte Couch. »Liebst du mich, Julika, oder liebst du mich nicht?«
Sie weint immer heftiger.
»Siehst du«, sage ich so zärtlich wie möglich in Anwesenheit eines amtlichen Verteidigers und eines Wärters, »nur darauf kommt es jetzt an. Nur auf dich, Julika, einzig und allein auf dich!«
»Wieso«, weint sie, »wieso auf mich?«
Noch immer mit der warmen Ruhe der Zuversicht versuche ich Julika zu erklären, warum sie, so sie mich wirklich liebt, kein Geständnis von mir braucht, daß ich ihr verschollener Gatte sei. Mir scheint es so einfach, so klar. Trotzdem rede ich ziemlich lang, viel zu lang und mit der Zeit, wie immer, auch verworren. Nie in meinem Leben bin ich dieser Lage gewachsen gewesen: sowie ich fühle, daß ich mit einer einfachen und klaren Einsicht allein bin, verliere ich die Klarheit, verrede sie mit hastigen Vergleichen, die dem andern helfen sollen, mich zu verstehen, in Wirklichkeit aber nur zersetzen, was eine Einsicht gewesen ist, und verteidige das Vertane schließlich mit Argumenten, die der bare Unsinn sind. Ich habe es genau gemerkt. Indem aber die schöne Julika einfach nichts sagt, überhaupt nichts, also auch keinen Unsinn, der wenigstens ein Gleichgewicht unserer Hilflosigkeiten herstellen würde, kann ich nicht aufhören. Warum hilft sie nicht? Ich halte ihre tränennasse Hand, als wären wir allein, weiß dann nur noch
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