Stiller
Göttliche Komödie, Erich Kästner, Mozarts Reise nach Prag, auch die Gedichte von Mörike, Till Eulenspiegel, dann wieder Marcel Proust, aber auch nicht die ganze Recherche, Huttens letzte Tage, von Gottfried Keller nur die Tagebücher und Briefe, ein Buch von C. G. Jung, die Schwarze Spinne, etwas von Arp und plötzlich das Traumspiel von Strindberg, etwas früher Hesse auch, Tschechow, Pirandello, alles in deutscher Übersetzung, von Lawrence die kleine Novelle aus Mexiko: Die Frau, die davonritt; ziemlich viel von einem Schweizer namens Albin Zollinger, von Dostojewski lediglich die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, die ersten Gedichte von Garcia Lorca auf Spanisch, kleine Prosa von Claudel und Das Kapital, letzteres von Hölderlin gestützt, ein paar Kriminal-Romane, Lichtenberg, Tagore, Ringelnatz, Schopenhauer, ebenfalls mit dem schwarzen Stempel einer öffentlichen Bibliothek, Hemingway (Stierkampf-Buch) steht neben Trakl, dann Garben von mürben Zeitschriften, ein Spanisch-deutsches Wörterbuch mit sehr vergriffenem Einband, das Kommunistische Manifest, ein Buch über Gandhi und so weiter! Jedenfalls dürfte es schwerfallen, daraus einen geistigen Steckbrief zu machen, zumal niemand weiß, was der Verschollene hiervon gelesen, was von dem Gelesenen er verstanden oder einfach nicht verstanden oder auf eine für ihn fruchtbare Weise mißverstanden hat, und mein Staatsanwalt und Freund macht denn auch die Miene eines Mannes, der nicht ganz finden kann, was ihm dient; einen Augenblick lang, wie er trotz Staub einen einzelnen Dünndruckband mit purpurnem Lederrücken herauszieht, denke ich: Vielleicht sucht er hier Bände aus seiner eigenen Bibliothek. Er stellt aber den Dünndruckband wieder ins Gestell, blättert dafür in Anna Karenina ... Im weiteren gibt es in dem Atelier vor allem einen breiten und langen Tisch aus gewöhnlichen Brettern, werkstattmäßig,auf Böcken, die den Klischee-Namen eines Gipsers tragen und auch von Gipserei verschmiert sind. Irgendeine Fee scheint Ordnung gemacht zu haben, sämtliche Aschenbecher sind geleert, ebenso der Kehrichteimer in der Küchennische unter der Dachschräge. An der Wand finden sich, wie Frau Sibylle es geschildert hat, zwei verblaßt-bunte Banderillas aus Spanien, eine afrikanische Maske von sehr fragwürdiger Echtheit, allerlei bis zur Unkenntlichkeit verblichene Fotos, das schöne Bruchstück eines keltischen Beils, ein Plakat von Toulouse-Lautrec, ebenfalls gänzlich verblichen. Einmal sagt der Staatsanwalt:
»Wo bleiben die denn so lange?«
»Weiß nicht«, sagt Knobel. »Ich habe gedrückt.«
Ich mische mich keineswegs in ihre Lokaltermin-Veranstaltung, die nicht gerade zu klappen scheint; ich bin hier als Häftling, gucke zum Fenster hinaus während ihrer sorgenvollen Beratung.
»Finden sie es nicht –?«
»Wieso?« sagt Knobel. »Die Dame kennt doch die örtlichen Verhältnisse, sie hat mir doch selber alles gezeigt.«
Also weiß ich nun, wen ich zu erwarten habe. Ich stecke mir eine Zigarette an und kann nicht glauben, daß Julika, wenn sie mich liebt, diese Farce mitzuspielen bereit ist. Ich bin gespannt, gewiß, doch zuversichtlich und eigentlich siegesgewiß; letztlich wird alles von Julika abhängen, nur von Julika ... In der Tat, was mich selbst in dieser Veranstaltung betrifft, könnte ich mir keinen Ort denken, wo ich mich fremder fühlte als hier. Ein paar Arbeiten in Lehm, die der verschollene Stiller seinerzeit verlassen hat, sind mit braunem Sacktuch umwickelt, damit der Lehm nicht vertrockne; aber da dieses Sacktuch seit Jahren nicht genäßt worden ist, steht zu erwarten, daß das Zeug gänzlich ausgetrocknet ist, nur noch von diesem braunen Sacktuch zusammengehalten. Ich rühre es nicht an, versteht sich. Man braucht nur, um den Lokaltermin zu vollenden, diese Sacktücher wegzuwickeln, und alles wird wie eine Mumie in Staub zerfallen. Auch mein Freund und Staatsanwalt kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren, findet ebenfalls, es erinnere an Mumien, wie sie in volkskundlichen Museen nicht umsonst hinter Glas stehen. Er betrachtet vor allem den Gips-Kopf des Direktors, den er vormittags in Natur erlebt hat, enthält sich aber eines Urteils. Einiges ist sogar in Bronze gegossen, was diesen Dingern meines Erachtens gar nicht bekommt; die Bronze, immerhin ein Metall von einiger Dauerhaftigkeit, nimmt ihnen den holden Trug desSkizzenhaften, der vielleicht das andere gerade noch mit den Reizen der Erwartung zu retten vermag, und was
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