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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Rolf und ich, während sie auf der Zinne gegenüber gerade eine Matratze klopfen. Es ist mir sehr bewußt, wie Rolf, mein neuer Freund, all diese Nebensachen doch bemerken muß, und die schöne Aussicht über Giebel und Lukarnen und Kamine und Brandmauern, eine Aussicht sogar mit einem Zwickel vom See, der unter dem versponnenen Herbstlicht blinkt, wenn ein Dampferchen seine gelassenen Wellen macht, eine wirklich erquickende Aussicht, die mich dünkt, hat es schwer, seineAufmerksamkeit zu gewinnen. Er raucht ziemlich hastig. Wozu mußten wir hierhergehen, wo ihn doch mancherlei betreffen mag, lauter Nebensachen, die gar nicht so gemeint sind und trotzdem für ihn, den Mann von Sibylle, eine leidige Bedeutung bekommen, sei es eben diese Matratze, die vor unseren Augen geklopft wird, oder die elastischen Strumpfbänder, die der Hausierer ihm anbot, das ganz feine Fichtennadelöl fürs Bad oder die Haarspangen, die immer wieder verlorengehen, immer wieder gebraucht werden; wozu, meine ich, die Besichtigung einer Stätte, die seine Frau und er innerlich längst überwunden haben? Ich sehe es doch seinen Lippen an; es kostet ihn mehr, als er wohl dachte, und unnötigerweise. Ich weiß nicht, was er in diesen zwei oder drei Minuten, seine Zigarette bis auf das Mundstück hinunter rauchend, denkt; aber es ist Unsinn, ganz gewiß, es gibt auch Prüfungen durchaus falscher Art, wie diese; das morsche Gestell eines Lehnsessels, worin seine Frau möglicherweise nie gesessen hat, weil das Tuch vor sieben Jahren schon fehlte, genügt auf einmal, um Jahre ihrer bezeugten Liebe wieder in Frage zu stellen, um in einer Minute scheinbar zu beweisen, daß man in sechs oder sieben Jahren scheinbar nicht weitergekommen sei, und Vorstellungen von quälerischer Präzision auszulösen, Vorstellungen des Gewesenen, die doch in jedem Fall, ob zutreffend oder unzutreffend, nur den Geschmack des Ekels liefern können. Oder erwartet mein Freund von sich selbst, er müßte auch diese Peinigungen, die nur die tote Örtlichkeit noch einmal in ihm erweckt, ohne Pein ertragen können? Es ist Unsinn. Was hat dieses Zeug hier, und wenn es nicht einmal morsch wäre, mit seiner lebendigen Sibylle zu tun, mit seiner Beziehung zu ihr? Es gibt einen Ekel, der nie aufhören kann, einen Ekel sozusagen als zwangsläufige Strafe für Vorstellungen, die uns einfach nichts angehen; glaube ich. Wozu tut er es sich an! Man kann eine Eifersucht überwinden, sie von innen heraus und angesichts des Partners überwinden, sie als Ganzes überwinden, wie er es ja geleistet hat; aber es ist Unsinn zu meinen, man müsse auch die einzelnen Scherben ohne Wimperzucken fressen können. Sein Lächeln ist etwas krampfig. Hat er es denn nicht gewußt, mein Freund und Staatsanwalt, der schon so manchen Menschen an einen Tatort begleitet hat, nicht gewußt, daß totes Zeug oft etwas Diabolisches hat? Ich weiß natürlich nicht, was ich ihm auf dieser Zinne sagen soll. Es ist eine so unnötige Demütigung, und eigentlich zum erstenmal verstehe ich die falschen Reaktionen, die bei einem gerichtlichen Lokaltermin gewonnen werden können, wenn einer vor totes Zeug gestelltwird, so, als gäbe es Wahrheit ohne Zeit ... Da er schweigt, frage ich etwas plötzlich:
    »Wie alt ist nun Ihre Frau eigentlich?«
    »Sibylle –?«
    »Hannes muß ja schon bald ins Gymnasium kommen«, plaudere ich, »und jetzt nochmals dieses Kleine, das muß für Ihre Frau doch wunderbar sein, dazu ein Mädchen –!«
    »Ja«, sagt er, »es ist wunderbar.«
    »Und auch für Sie –«
    »Ja«, sagt er, »das ist es!«
    Der gute Knobel, als kleiner Beamter noch nicht gewohnt, mitten in seiner Dienstzeit so untätig zu sein, läßt uns keine Ruhe und warnt vor dem rostigen Geländerchen, das man lieber nicht anfassen solle. Also fassen wir es lieber nicht an. Tauben gurren auf dem Dach. Man sieht auch den verblauenden Hügelzug, wo wir gewesen sind.
    »Es war herrlich da oben«, sage ich, »in dieser ländlichen Gartenwirtschaft –«
    »Nicht wahr?«
    »Ich meine natürlich nicht einen Engel mit Flügeln«, sage ich in Erinnerung an seine Frage dort oben, »nicht einen Kunst-Engel wie in der Bildhauerei und im Theater. Kann sein, daß die Menschen, die dieses Bild des Engels einmal erfunden haben, etwas Ähnliches erfahren haben wie ich, etwas ebenso Unsägliches. Ich weiß eigentlich nur, daß ich etwas erfahren habe –«
    Zu meinem Verdruß (ich empfinde es wie einen üblen Gag) ertönen gerade die Glocken des

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