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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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meine Frage, ob sie mich liebe, und warte –
    »Wie lange wollen Sie diese unglückliche Frau denn noch quälen!« sagt mein Verteidiger sicherlich wohlmeinend. »Daß Frau Julika Sie liebt, Gott im Himmel, das ist doch klar –«
    Auch er redet viel zu lang.
    »– und überhaupt«, schließt er endlich, »haben Sie denn gar kein Gefühl für diese Frau? Es ist ja ungeheuerlich, was Sie dieser zarten Frau zumuten. Statt daß sie endlich das Geständnis geben! Nun kommt diese Frau von Paris, Ihnen zuliebe, hat Ihre Tanzschule aufgegeben, Ihnen zuliebe, und Sie behandeln Sie – Man kann sich wirklich fragen, womit ein Wesen wie Frau Julika es verdient hat, mit Ihnen verheiratet zu sein!«
    Daraufhin blicke ich ihn an.
    »Jawohl!« bekräftigt er.
    Daraufhin, übrigens nicht sofort, sondern nach einigem Zögern, nach einigem Warten, ob Julika ihn wirklich nicht zurechtweist, erhebe ich mich, spüre plötzlich sehr schwere Beine, staube meinen Mantel ab, um Zeit für irgendeine glücklichere Wendung zu lassen, gehe endlich zur Türe, die (ich werde dieses Gefühl in der Hand nie vergessen) geschlossen ist. Geschlossen. Es ist keine Täuschung, auch keine Klemmung der Türe; sie ist einfach geschlossen.
    »Knobel«, sage ich und höre ein Lachen aus mir, das ich selber nicht mag, »– geben Sie den Schlüssel.«
    Knobel mit krebsroten Ohren schweigt.
    »Was will man von mir?« frage ich.
    Inzwischen hat Julika, die Verräterin, sich zwischen mich und die Türe gestellt, deren Klinke ich halte, eine Gelegenheit wenigstens, sie unter vier Augen zu fragen: Warum verrätst du mich? Ihr argloses Gesicht mit den ungemein schönen Augen, mit diesen Bögen der rasierten Brauen, die so einen permanenten Charme kindlicher Erstauntheit geben, zeigt nicht eine huschende Spur von Ahnung, warum ich so tue, und bringt mich zum Verstummen. Ebenfalls unter vier Augen sagt sie: Tu doch nicht so! Und in der Tat, ich habe mich, irgendwie von primitiver Wallung erfaßt, allzuoft schon verirrt; die Möglichkeit, daß ich allen Unrecht tue, besonders aber Julika, die doch eben noch meine einzige und so heitere Zuversicht gewesen ist, diese Möglichkeit ist ja da. Wirklich: Warum tue ich nur so? Arm in Arm mit Julika, die ich vielleicht einfach nicht verstehe, so stehe ich nun also vor dem Verteidiger, der Julika auch eine großartige Frau findet, und vor Knobel, meinem braven Wärter, der den Schlüssel in der Hosentasche hat, im übrigen umgeben von diesen Sacktuch-Mumien, die Julika mir als mein Lebenswerk vorzustellen beginnt. Eine Weile lang, wie unter einer Lähmung meines Bewußtseins, lasse ich es zu, wahrhaftig, lasse ich mich führen, beinahe über Julika gerührt, daß ihr dieses Zeug so viel bedeuten kann, lasse mich zu kleinen Späßchen hinreißen, betreffend etwa den Gips-Kopf des Direktors ... Ich weiß nicht, was mich derart paralysiert hat, ebensowenig, wie lange es gedauert hat; plötzlich wieder erwacht, wobei mich jede Erinnerung an die verschlossene Türe und an die unverschämte Bemerkung meines Verteidigers verlassen zu haben scheint, wie aus einem albernen Traum erwacht, der auch schon vergessen ist, bewußt, daß es nur ein Traum gewesen ist, finde ich mich wieder genau bei der Frage, die ich, unmittelbar vor diesem Traum mit der verschlossenen Türe, schon einmal gestellt habe: ob Julika mich liebe oder nicht. Dort, begreife ich, haben wir den Faden verloren, und ich unterbreche ihre so rührende Erläuterung zu den Sacktuch-Mumien, indem ich eben diese Frage wiederhole. Ich verstehe einigermaßen, daß es Julika, einem so scheuen und verhaltenen Wesen, wie sie es nun einmal ist, schwerfällt, in Gegenwart eines amtlichen Verteidigers und eines Wärters darauf zu antworten, fühle sehr die Ungehörigkeit meiner Frage an diesem Ort. Vielleicht gerade darum vertrage ich es nicht, daß mein Verteidiger, um der stummen Julika zu helfen, wie er meint, wieder den Mund aufmacht.
    »Hol Sie doch der Teufel!« sage ich ihm ins Gesicht. »Was geht das Sie überhaupt an! Ich bestreite nicht, daß ich ein Verhältnis habe mit dieser Dame –«
    Julika verletzt:
    »Anatol –?!«
    Ich schreie:
    »Was heißt hier Anatol? Was heißt hier Anatol? Deswegen lasse ich mich noch lange nicht zwingen, diesen ganzen Plunder Ihres verschollenen Mannes zu übernehmen – Da!« lache ich vor Wut, die mich im Grunde doch nicht verlassen hat, und reiße so ein Sacktuch ab, ratsch, und wie erwartet: lauter Staub, von keinem Verteidiger zu

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