Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
die arme Gattin nicht ohne Tränen, aber es mußte ja wohl sein, zumal sich Isidor innerhalb der gesetzlichen Frist nicht gemeldet hatte, seine Apotheke wurde verkauft, die zweite Ehe in schlichter Zurückhaltung gelebt und nach Ablauf der gesetzlichen Frist auch durch das Standesamt genehmigt,kurzum, alles nahm den Lauf der Ordnung, was ja zumal für die heranwachsenden Kinder so wichtig war. Eine Antwort, wo Papi sich mit dem Rest seines Erdenlebens herumtrieb, kam nie. Nicht einmal eine Ansichtskarte. Mami wollte auch nicht, daß die Kinder danach fragten; sie hatte ja Papi selber nie danach fragen dürfen ...
     
     
    Für Whisky haben sie kein Geld, aber für Telegramme nach Mexiko, um sich von der Schweizerischen Gesandtschaft bestätigen zu lassen, daß es nicht nur ein mexikanisches Drecknest namens Orizaba gibt, sondern tatsächlich eine ganze Reihe blühender Hazienden, die teilweise, in der Tat, von früheren Ministern bewohnt werden, teilweise die Größe des Kantons Zürich übertreffen, teilweise auch nicht. Im übrigen jedoch (so meldet mein tüchtiger Verteidiger) kann die Gesandtschaft nicht bestätigen, daß auf einer mexikanischen Hazienda je ein schweizerischer Staatsbürger tätig gewesen sei.
    »Bitte«, sage ich, »da haben Sie es ja!«
    »Was?«
    »Daß ich kein schweizerischer Staatsbürger bin, Herr Doktor, und somit auch nicht euer verschollener Herr Stiller sein kann.« Wie jedesmal, wenn einer von uns beiden messerscharf denkt, überzeugt es den andern keineswegs, mein Verteidiger greift in seine Ledermappe und überreicht mir wahrhaftig eine Zigarre, eigens für mich gekauft, leider nicht die gewünschte Marke, ich zeige mich trotzdem gerührt.
    »Ehrenwort – sind Sie wirklich in Mexiko gewesen?« fragt er, »Spaß beiseite!«
    Komisch: wie so eine Kleinigkeit, eine Zigarre etwa für einen Franken, sofort verpflichtet, es einfach unmöglich macht, daß ich dem Spender wortlos den Rücken kehre als Antwort auf seine Frage ... Ob ich wirklich in Mexiko gewesen bin! Jeder kann sagen Ja, aber nicht jeder, denke ich, kann meinem Verteidiger erzählen, was so ein Sandblatt, wie eben an dieser Zigarre, dem armen Pflücker in der Plantage für einen Rückenschmerz macht; denn das sind die untersten Blätter an der Staude, zäher als die oberen, grau von Erde, sandig und spröde, so daß sie nur allzu gerne brechen. Der Pflücker aber wird nur für Ware ohne jeden Makel bezahlt. Mit diesem sogenannten Sandblatt umwickelt man die feinen Zigarren. Nur tadellose Ware kommt in Frage ...
    »Jaja«, sagt mein Verteidiger, »sicher, aber was hat das mit meiner Frage zu tun?«
    Ich rauche. Ich schildere ihm meine Arbeit auf der Tabak-Plantage von Uruapan. Eine harte Zeit. Von Morgen bis Abend auf den Knien. Anders ist das Sandblatt gar nicht zu pflücken; auch so, auf den Knien, muß man sich noch beugen, um die besten Sandblätter zu finden. Einmal, ich werde es nie vergessen, kauerte ich wieder so von Staude zu Staude, einen mexikanischen Strohhut auf dem Kopf, ohne die anderen Pflücker zu sehen. Umsonst wartete ich auf den Pfiff des Aufsehers. Trotz meiner wirtschaftlichen Lage hielt ich die Hitze einfach nicht mehr aus, Lohn hin oder her. Immer deutlicher stank es nach Schwefel. Ich schrie, plötzlich von Angst gepackt. Aus der grauen Erde, gerade hinter mir, quoll plötzlich ein Wölklein von gelblichem Rauch. Umsonst rief ich nach den anderen Arbeitern, größtenteils Indios, die waren bereits geflohen. Auch meine Füße ertrugen die Hitze nicht länger, und ich lief, aber wohin? Allenthalben räuchelte es wie aus einer Herrengesellschaft, die Zigarren raucht, und ich sah, wie die Erde ringsum Risse bekam, ganz lautlose Risse, und aus diesen Rissen stank es nach Schwefel. Ich lief irgendwohin, bis ich vor Keuchen nicht mehr konnte, und schaute zurück auf unsere Plantage, sah, wie es stieg, wie es sich wölbte, wie da ein Hügelchen wurde. Ein spannendes Schauspiel, doch Hitze und Rauch trieben mich weiter. Ich meldete es im Dorf. Die Weiber sammelten ihre Kinder und schluchzten; die Männer beschlossen, ein Telegramm zu schicken an den Besitzer der Plantage, die sich in einen Vulkan verwandelte. Nach wenigen Tagen und Nächten, das Dorf lebte unter stetem Alarm, war es bereits ein nicht unbeträchtlicher Berg, umweht von gelblichen und grünlichen Schwaden. Das Dorf konnte weder arbeiten noch schlafen; die Sonne schien wie je, aber es roch nach Schwefel, giftig und heiß, so daß man das Atmen

Weitere Kostenlose Bücher