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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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lieber unterlassen hätte, und es schien der Mond aus einer wolkenlosen Nacht, aber es donnerte. Die kleine Kirche war überfüllt, die Glocken läuteten ohne Unterlaß, zeitweilig überdröhnt von dem berstenden Berg. Das Telegramm blieb ohne Antwort, und man mußte selber auf Rettung sinnen. Lichterlohes Feuer schien in den Rauch, der den Mond verwölkte. Und dann kam die Lava, langsam, aber unaufhaltsam, in der Luft erkaltend und erstarrend, ein schwarzer Brei mit Wirbeln von weißlichem Dampf; nur in der Nacht sah man noch die innere Glut in diesem steinernen Brei, der näher und näher kam, haushoch, näher und näher: zehn Meter im Tag.Vögel schwirrten wie irr, da sie ihr Nest nicht mehr fanden, und Wälder verschwanden unter dem glühenden Gestein, Kilometer um Kilometer. Das Dorf wurde geräumt. Kein einziger Mensch, glaube ich, verlor das Leben. Ihre weinenden Kinder auf dem Arm oder auf dem Rücken, mit Bündeln beladen, die nicht viel Wertvolles enthielten, trieben sie das verstörte Vieh vor sich her, die Esel wieherten und waren störrisch, je verzweifelter man sie schlug. Gelassen floß die Lava zwischen die Häuser, füllte sie, verschluckte sie. Als einer, der kein Vieh zu retten hatte, stand ich auf einem Hügel und sah es mir an, wie die Lava kam; sie zischelte wie eine Schlange, indem sie alles verdampfte, was ihr an Wasser begegnete, und hatte auch eine Haut wie gewisse Schlangen, eine Haut von metallischem Grau, krustig über einem weichen und heißen und beweglichen Innern. Endlich erreichte sie die Kirche; der erste Turm brach ins Knie und wurde mit allen seinen stürzenden Trümmern verschluckt; der andere blieb stehen und steht noch heute, ein Turm mit spanischem Küppelchen, das einzige, was von dem Dorf noch zu sehen ist ... »Das Dorf hieß Paricutin. Heute ist es der Name des neuen Vulkans«, so schließe ich meine Erzählung, »und wenn Sie jemals nach Mexiko gelangen, lieber Doktor, fahren Sie hinaus zu diesem Paricutin, die Straßen sind miserabel, aber es lohnt sich vor allem in der Nacht; die glühenden Steine fliegen bis fünfhundert Meter empor, dazu poltert es, ein Poltern wie von Lawinen, kurz vorauf rollt sich jedesmal ein Rauch aus dem Krater, anzusehen wie ein riesenhafter Blumenkohl, aber schwarz und rot, nämlich von unten bescheint ihn die Glut. Noch vor kurzem folgten sich die Eruptionen ziemlich rasch; sechs Minuten, zehn Minuten, drei Minuten, jede wieder mit einer anderen Farbe von glühenden Steinen, die meistens schon erlöschen, bevor sie auf die Erde prallen. Es ist ein Feuerwerk erster Klasse, glauben Sie mir. Vor allem aber die Lava! Mitten aus einer Finsternis von toten Schlacken, die der Mond bescheint, ohne ihre Schwärze tilgen zu können, schießt sie hervor als ein hellichter Purpur, stoßweise wie das Blut aus einem schwarzen Stier. Sie muß sehr dünn und flüssig sein, diese Lava, fast blitzhaft schießt sie über den Berg hinunter, langsam an Helle verlierend, bis der nächste Ausguß kommt, Glut wie aus einem Hochofen, leuchtend wie die Sonne, die Nacht erleuchtend mit der tödlichen Hitze, der wir alles Leben verdanken, mit dem Innersten unseres Gestirns. Das müßten Sie sehen! In unserer Seele, ich erinnere mich sehr genau, erwacht ein Jubel, wie er sich bloß im Tanz entspannen könnte, im wildesten aller Tänze, ein Überschwangvon Entsetzen und Entzücken, wie er die unbegreiflichen Menschen, die sich das warme Herz aus dem Leibe schnitten, erfaßt haben mag.«
    Mein Verteidiger notiert.
    »Paricutin?« fragt er. »Wie schreibt sich das?«
    »Wie man es sagt.«
    Wir plaudern noch dies und das. Die Zigarre ist mir nicht geläufig, aber in ihrer Art sehr gut. Zur Sache (wie er sein papiernes Dossier zu nennen pflegt) kommen wir wieder nicht.
    »Herr Doktor!« rufe ich noch in den Korridor hinaus, »wegen meiner Arbeit in jener Plantage brauchen Sie nicht nachzuforschen, Herr Doktor, das können Sie sich sparen, da wird auch Ihre Schweizerische Gesandtschaft nichts finden.«
    »Wieso nicht?«
    »Wegen der Lava.«
    Er wird trotzdem telegraphieren.
     
     
    Ich bin nicht ihr Stiller. Was wollen sie von mir! Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle. Warum lassen sie nicht

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