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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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edlen und aufrechten und schlanken Hals mit ihrer eigentlich zarten Stimme daraus. Ich werde es nie vergessen! Und die Grazie etwa ihres Handgelenkes, wenn sie so sitzt und raucht – einen Augenblick lang ist es mir, als werde ich Julika nun an die Gurgel greifen und sie erwürgen. Aber auch das geschieht nicht, versteht sich ... Dann kommt Knobel zurück, meldet meinem Verteidiger den ungefähren Umfang des Schadens.
    »Gott sei Lob und Dank«, sagt mein Verteidiger, »wenigstens ist kein Mensch verletzt, wenigstens das –!«
    Meinem Stiefvater müssen sie erklären, was geschehen ist; der Lärm ist ihm nicht entgangen, und er möchte es wisssen, denn schließlich hat man ihn persönlich hierherbestellt, persönlich, wie er mehrmals betont.
     
    PS.
    Jetzt, ich sehe es im vollen Bewußtsein meiner Ohnmacht, wäre der Augenblick da, alles zu sagen, die Wahrheit zu sagen. Aber was ist dieses mein Alles! So wie ich es zu erklären versuche, bleibt nichts mehr übrig. Hätte ich es sonst nicht längst erklärt, dieses mein Alles, diese meine Erfahrung –?
    Was ich sagen kann:
    Vor etwa zwei Jahren versuchte ich, mir das Leben zu nehmen. Der Entschluß war alt. Dabei war ich, wie vermutlich die meisten Selbstmörder, überzeugt, daß es dann, wenn man es getan hat, einfach Schluß ist, Licht aus, Schluß der Vorstellung. Darin war ich, ohne Zweifel, insofern ohne Angst. Das Mißlingen hatte rein technische Ursachen. Die kleine Schußwaffe, die ich in jener Schindelhütte gefunden hatte, ein altmodisches Ding, das nach gründlicher Reinigung funktionierte, hatte einen viel leichteren Druckpunkt, als ich es vom Armeegewehr gewohnt war, oder überhaupt keinen. Vermutlich ging die Waffe vorzeitig los, so daß das Projektil (in der betreffenden Schublade war ein einziger Schuß von dieser alten Munition zu finden gewesen) den Schädel nur streifte, ohne einzudringen, rechts über dem Ohr. Später zeigten sie mir das Röntgen-Bild. Ich erinnere mich: mein Kopf wurde von zwei Händen wie von zwei Klammern gehalten, über mir das Antlitz von Florence, die als einzige den Schuß gehört hatte, und dann war alles weg: bis auf eine runde Öffnung in der Ferne(als Buben krochen wir manchmal durch einen Abwasserkanal, das ferne Loch mit Tagesschein erschien viel zu klein, als daß man je herauskommen könnte; genau so!), und der Zustand war unerträglich, dabei nicht schmerzhaft. Eher sogar Sehnsucht nach Schmerz. Das Gefühl, gerufen zu werden, selber keine Stimme zu haben. Ein verzweifeltes Verlangen, einzuschlafen, und dabei die Gewißheit, nie wieder schlafen zu können. Später, bereits im City-Hospital, soll ich in diesem Sinn gesprochen haben, um Schlaf bittend. Ich glaube nachträglich, die entsetzliche Pein bestand darin, plötzlich nichts mehr zu können, nicht rückwärts, nicht vorwärts, nicht stürzen zu können, kein Oben und kein Unten mehr, dennoch vorhanden zu bleiben, rettungslos ohne Schluß, ohne Tod. Wie man ja in Träumen mitunter genau weiß, daß es Traum ist, wußte ich, daß dies nicht der Tod ist, auch wenn ich jetzt sterbe. Es war, fade gesprochen, eine große Verblüffung, etwa wie wenn man von einer Mauer springen würde, um sich zu zerschmettern, aber der Boden kommt nicht, er kommt nie, es bleibt Sturz, nichts weiter, ein Sturz, der auch wieder gar keiner ist, ein Zustand vollkommener Ohnmacht bei vollkommenem Wachsein, nur die Zeit ist weg, wie schon gesagt, die Zeit als Medium, worin wir zu handeln vermögen; alles bleibt wie gewesen, nichts vergeht, alles bleibt nun ein für allemal. Ich bekam Spritzen, wie man mir später sagte, in kurzen Intervallen. Diese Linderungen, Stärkungen, Betäubungen, für den empfindlich verletzten Körper wohl notwendig, waren es wahrscheinlich, was mich jedesmal dem Schrecken wieder näher brachte, der dann in Dämmerzuständen sein bildliches und dem Gedächtnis begreiflicheres Echo hatte. So wenigstens denke ich es mir; ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Kann man denn hierüber sprechen? Ich kann hier lediglich sagen, daß es dieser Schrecken ist, was ich ›meinen Engel‹ nenne ...
    (Unterbrochen durch Mitteilung: Die heutige Schlußverhandlung mit Urteilsspruch, ursprünglich auf 16.00 Uhr angesetzt, ist auf vormittag 10.30 Uhr verlegt worden.)
    – – –
    Wie gesagt, ich habe noch nie mit jemandem über diese Angelegenheit gesprochen, mit Recht; man kann etwas Unverständliches nicht verständlich machen, ohne es gänzlich zu verlieren, und

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