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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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ich merke auch jetzt, wie ich bei dieser Erklärung unwillkürlich versuche, die Dinge zu reimen, um allem ›einen Sinn zu geben‹. Dabei habe ich gar nichts zu geben. Ich habe den ›Sinn‹ lediglich empfangen. Und ich habe ihn zu wahren ...Von den Träumen, die damals kettenweise kamen, weiß ich selber nur noch wenig, da ich sie niemand habe mitteilen können. (Einmal besuchte mich Florence, die Mulattin, in jenem City-Hospital; ich verstand sie recht genau, ohne meinerseits mehr als vereinzelte Wörter sprechen zu können.) Einer der Träume: – Im Augenblick, da ich ›Little Grey‹ erwürge, weiß ich, daß es gar nicht die Katze ist, sondern Julika, die lacht, ein Lachen, wie ich es nie an ihr gekannt habe. Julika überhaupt ganz anders, lustig, ich würge die Katze mit aller Kraft, Julika höhnt mich vor einem Publikum, das ich nirgends sehe, die Katze wehrt sich nicht, aber springt nachher wieder auf den Fenstersims, leckt sich, Julika gar nie meine Frau gewesen, alles nur Einbildung von mir ... Ein anderer Traum: In meinem Bett liegt Mutter, gräßlich, obzwar lächelnd, eine Puppe aus Wachs, Haare wie Bürstenborsten, mein großes Entsetzen, ich versuche das elektrische Licht anzudrehen, es geht nicht, ich versuche Julika anzurufen, es geht nicht, alles unterbrochen, Finsternis in der ganzen Wohnung, wobei ich doch die Mutter aus Wachs genau sehe, in einem äußersten Grad von Grauen knie ich nieder mit Schrei, um zu erwachen, in meinen Händen plötzlich ein Osterei so groß wie ein Kopf ... Andere Träume weiß ich noch weniger. Alle gingen um dasselbe, schien mir, und in Dämmerzuständen ging’s weiter, zum Beispiel ...
    (Unterbrochen durch Dr. Bohnenblust, meinen Verteidiger, der die gleiche Mitteilung. mündlich macht. Ich solle mich bereithalten.)
    – – –
    Eigentlich kann ich bloß sagen: Ich habe damals eine Ahnung erlebt. Nicht die Scham verbietet mir, sie auf den Tisch zu legen, sondern ich kann es einfach nicht. Vor mir selbst habe ich mich jener Handlung nie geschämt. Ich hatte ein Leben, das nie eines gewesen war, von mir geworfen. Mag die Art, wie ichs gemacht hatte, lächerlich sein! Es blieb mir die Erinnerung an eine ungeheure Freiheit: Alles hing von mir ab. Ich durfte mich entscheiden, ob ich noch einmal leben wollte, jetzt aber so, daß ein wirklicher Tod zustande kommt. Alles hing nur von mir ab, ich sagte es schon. Näher bin ich dem Wesen der Gnade nie gekommen. Und daß ich mich, einer Gnade gewiß, zum Leben entschieden hatte, merkte ich daran, daß ein rasender Schmerz einsetzte. Ich hatte die bestimmte Empfindung, jetzt erst geboren worden zu sein, und fühlte mich mit einer Unbedingtheit, die auch das Lächerliche nicht zu fürchten hat, bereit, niemand anders zu sein als der Mensch, als der ich eben geboren worden bin, und kein anderes Lebenzu suchen als dieses, das ich nicht von mir werfen kann. Das war vor etwa zwei Jahren, wie gesagt, und ich war bereits achtunddreißig. Am Tag, als ich endlich das City-Hospital verlassen durfte ... – – –
    (Wieder unterbrochen!)
     
     
    Das Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ich bin (für sie) identisch mit dem seit sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen verschollenen Anatol Ludwig Stiller, Bürger von Zürich, Bildhauer, zuletzt wohnhaft Steingartenstraße 11, Zürich, verheiratet mit Frau Julika Stiller-Tschudy, derzeit wohnhaft in Paris, und verurteilt zu einer Reihe von Bußen betreffend die Ohrfeige gegenüber einem eidgenössischen Zollbeamten, betreffend staatsbürgerliche Versäumnisse aller Art, Versäumnis der Abmeldepflicht (infolgedessen liegen heute insgesamt 107 Mahnungen von verschiedenen Ämtern vor); ferner Schulden betreffend Staatssteuer, Militärsteuer, Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung, ferner Schadenersatz betreffend ein eidgenössisches Armeegewehr, zusätzlich ein Drittel der Gerichtskosten, total 9 361.05 Franken, zahlbar binnen dreißig Tagen nach Unterzeichnung des vorliegenden Urteils. Ferner: bei Abschluß dieses Verfahrens bleibt die Untersuchungshaft aufrechterhalten, bis in einem zweiten Verfahren, sofern gegen das erste keine Appellation eingereicht wird, eventuelle Zusammenhänge mit der seinerzeitigen Affäre Smyrnow abgeklärt sind.
    Verzichte auf ein Schlußwort –
    Verzichte auf die Appellation –
    Frau Julika Stiller-Tschudy, mit heutigem Datum meine gesetzliche Gattin, ist jetzt damit beschäftigt, Herrn Dr. Bohnenblust, meinen amtlichen Verteidiger, etwas

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