Stiller
einem halben Jahr etwa, im Spätsommer, kam der übermütig klingende Brief, worin Stiller mitteilte: »Vom lieben Gott für alle Monate in der Untersuchungshaft belohnt, haben wir soeben das Haus unseres Lebens gefunden, gemietet und bezogen, une ferme vaudoise!« Wir atmeten auf. Es schien ein ausgesprochener Glücksfall zu sein. Ein märchenhaft geringer Mietzins ließ auf eine ebenso märchenhafte Verlotterung schließen, doch wurde unser Freund nicht müde, seine ›ferme vaudoise‹ in ausgiebigen Schilderungen zu loben. Jedenfalls schien er recht glücklich zu sein. Wir hatten uns vorzustellen ein behäbiges Haus, ursprünglich ein waadtländisches Bauernhaus, vielleicht auch ein Winzerhaus, darüber war sich Stiller nicht klar; dazu einen Rebhang, irgendwo eine alte Trotte mit einer Ehrfurcht erweckenden Jahreszahl, eine luftige Scheune als Atelier von hinreichendem Ausmaß, ferner eine Allee mit großen Platanen, die der ganzen Liegenschaft einen Zug ins Herrschaftliche gab. Je nach Brief waren es nicht Platanen, sondern Ulmen. Die Scheune ging in späteren Briefen überhaupt verloren. Dafür tauchten nun andere Erfreulichkeiten auf; plötzlich schrieb Stiller vom alten Ziehbrunnen im Hof, dessen Schmiedekunst er uns zeichnete, vom Bienenhaus oder vom Rosengarten. All dies schilderte er mit liebevoller Gemütlichkeit als etwas verwildert, etwas verrostet, etwas versiegt, und alles war von dunklem Efeu überwuchert. Unsere Vorstellungskraft hatte zuweilen Mühe, zumal wir die Gegend um Glion eigentlich kennen. Es war anzunehmen, daß unser glücklicher Freund ein bißchen übertrieb. Skizzen von seiner Hand zeigten ein steiles Ziegeldach mit Walmen am Firstende, wie es im Waadtland üblich ist, ringsum ein Plateau mit Obstbäumen, dahinter die Berge von Savoyen; die Allee mit den achtzig Ulmen fehlte. Meine Frau gestattete sich eine diesbezügliche Nachfrage! Eine gesonderte Skizze, als Skizze so reizvoll, daß wir sie in einem Passepartout aufhängten, zeigte den Innenraum miteinem großen bäurischen Rauchfang, Frau Julika davor als kniende Feuermacherin; am Rande des Blattes eine herzliche Einladung zur Raclette.
»Wann kommt Ihr nun?« begann bald jeder Brief, in einem Nachsatz schrieb er: »Ich muß Dich nochmals dringend aufmerksam machen, daß Du nicht mit dem Wagen hierherkommen kannst. Niemand kann Dir den Weg sagen. Stelle Euren Wagen einfach in Montreux ein. Ich hole Dich dann ab; anders wirst Du meine ferme vaudoise nie finden!«
Der Winter kam, und wir trafen Stiller nicht. Er hatte nicht das Geld, um nach Zürich zu kommen, und nicht das Bedürfnis, auch wenn man ihn eingeladen hätte. Auch der Frühling verging ohne Begegnung. Heute verwundert es mich. Stiller schrieb uns ziemlich häufig; in seinen Briefen erschien zwar Frau Julika nicht selten. Wir wußten, daß sie eine Zeitlang in einem Lebensmittelgeschäft als Aushilfe arbeitete. Über das Eigentliche indessen, über ihre Ehe miteinander, äußerten sich seine Briefe auch nicht einmal mit einer Anspielung. Statt dessen beschrieb er Sonnenuntergänge über zwei und drei Seiten. Im Grunde schwieg er; ich empfing seinen Brief jedesmal wie eine Flaschenpost, die den äußeren Standort meldet, und hatte wohl kein Recht, sein Schweigen aufzubrechen wie in Verhören, sei es mit offener oder verfänglicher Frage oder mit herausfordernder Mißdeutung. Er bemühte sich, spaßig zu schreiben.
»Du glaubst wohl nicht«, schrieb er wieder, »daß ich das Haus meines Lebens gefunden habe. Warum kommt Ihr nicht? Ich gestehe, daß man Schloß Chillon sieht und die Dents du Midi, bei Westwind hörst Du auch die Bundesbahn, Lautsprecher von einer internationalen Regatta, Tingeltangel vom sommerlichen Tanz unsrer Kurgäste, und ich leugne nicht, daß man von hier auch einige Hotels von Montreux sieht, eigentlich alle, aber wir sind einfach drüber, weißt Du, auch innerlich drüber. Du wirst ja sehen! Im Keller, das habe ich Dir noch gar nie geschrieben, stehen leere Fässer, da kannst Du hineinrufen, daß es Dir selber gruselt vor Deiner Stimme, und wenn Du ganz still bist, hörst Du die Mäuse im Gebälk, vielleicht auch Ratten, jedenfalls ein Zeichen, daß das Gebälk echt ist, und darauf kommt’s an, siehst Du, alles ist hier echt, sogar die Schwalben unter meinem Dach, das ich jetzt eine liebe Woche lang geflickt habe zu Julikas unentwegtem Entsetzen, ich könnte ausrutschen. Dabei bin ich jetzt die Vorsicht in Person, ich hänge am Leben wie noch
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