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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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nie, dann hat man immer so ein Gefühl, der Tod sei einem auf den Fersen, das ist natürlich, dieses Gefühl, ein Zeichen von Leben, weißt Du. Im Ernst, ich habe das nochselten erlebt: ich freue mich fast immer auf den nächsten Morgen und bitte nur darum, daß der morgige Tag so sei wie der eben vergangene, denn die Gegenwart genügt mir in einem manchmal bestürzenden Maß. Und dann werde ich mir jetzt eine Werkstatt einrichten, kann ja nicht immerzu nur Deinen Kierkegaard lesen und so schweres Zeug, muß jetzt Reben binden, dann Unkraut jäten, ferner Schmirgelpapier kaufen, Kunstdünger, Schneckenpulver, dann Holz spalten, Du siehst: retour à la nature. Übrigens sage Deiner Frau, es sind nicht Platanen, sondern Ulmen, leider krank wie heutzutage fast alle Ulmen, niemand kann’s erklären, die Ulmen mögen unsere Zeitläufe nicht, und daß sie gefällt werden müssen, schmerzt uns in der Seele, wennschon sie unserem Nachbarn gehören. Wirst Du sie noch sehen? Ich erwarte Dich jetzt schon, im Geiste, dort unten auf dem Perron von Montreux; dann führe ich Euch einen ziemlich steilen, steinigen, von Rebmauern umfaßten und im Sommer wie ein Backofen glühenden, im Herbst aber luftigen, übrigens seit Jahrzehnten vermoosten, heutzutage nur noch von Holzsammlern und vom Ehepaar Stiller (sprich Stillääär) begangenen vieux sentier. Aber was soll ich Dir dieses Land hier beschreiben! Lies es bei Deinem und nun auch meinem geliebten Ramuz. Wann kommt Ihr nun endlich? Ich bitte: bevor das alte Gemäuer zerfällt, das Moos meine Füße überwuchert und der Efeu aus unseren Augen wächst.«
    Bei solchen Briefen erinnerten wir uns nicht ohne Lächeln an Stillers frühere Spöttelei über das ländliche Leben als ›Reduit der Innerlichkeit‹; nun schien er sich in seiner ›ferme vaudoise‹ wohler zu fühlen als je. Besonders erleichterte uns auch die Mitteilung, daß Frau Stiller eine sinnvolle Halbtagsarbeit hatte finden können; in Montreux gab sie Rhythmische Gymnastik in einer Mädchenschule. Und Stiller hatte sich inzwischen selbst eine Arbeit geschaffen. Zum Geburtstag meiner Frau kam eine ganze Sendung von Keramik, Schalen und Krüge und Teller, lauter nützliche Ware. Davon hatte Stiller nie etwas verlauten lassen. Jetzt schrieb er zu seiner Sendung:
    »Hier in Glion, müßt Ihr wissen, falls Ihr jemals kommt, bin ich jetzt ein Keramiker von Geburt an. Ich großverdiene jetzt. Und wenn ich einmal eine eigene Brennerei habe, wird es ausarten. Aber dann, wenn ich erst genug habe von der Geldmacherei, gehe ich hinauf nach Caux, das ja ganz in meiner Nähe ist, zehn Minuten mit dem Bähnchen; aber noch bin ich nicht soweit. Noch brenne ich nicht selbst. Ich verkaufe vorzugsweise anAmerikaner von Geschmack. An meinem Gartentor steht: Swiss pottery. Gerade Amerikaner, die etwas von Töpferei verstehen, sind nicht selten verblüfft, in diesem Lande fast die gleichen Ornamente zu finden, wie ich sie bei den Indios unterhalb Los Alamos, Arizona, und besonders in dem indianischen Museum von Santa Fé mit eigenen Augen auch gesehen habe.« Seine Lust an Eulenspiegelei hat Stiller nie verlassen. Er brauchte ein gewisses Maß von Verstellung, um sich unter Menschen wohl zu fühlen. Als meine Frau anläßlich einer Reise nach Südfrankreich, damals allein mit den Kindern, Stiller in seinem Glion kurz besucht hatte, fragte ich sie nach seiner ›ferme vaudoise‹; sie lachte nur hellauf. Ich müßte es mir schon selber ansehen! In Wirklichkeit ging es wohl nicht so märchenhaft wie in seinen Briefen. Frau Stiller mußte immer wieder einmal ›in die Höhe‹. In diese Zeiten seines Alleinseins fielen auch immer seine nächtlichen Anrufe. Sie waren oft lästig, denn oft hatte man gerade Gesellschaft. Meistens hatte Stiller schon etwas getrunken, redete jetzt von Kierkegaard und gab vor, unbedingt meine Erläuterung zu brauchen. Dabei befand Stiller sich in einer Wirtschaft; infolge Insolvenz war sein eigenes Telefon wieder gesperrt. Ich war nie ein Kenner Kierkegaards; den Band hatte ich ihm geschickt auf Grund eines Gesprächs über die Schwermut als Symptom der ästhetischen Haltung gegenüber dem Leben. Im Augenblick seines nächtlichen Anrufs hatte ich das Buch nicht zur Hand, Stiller ebensowenig. Vor allem hatte er in Kierkegaard offenkundig noch kaum gelesen, und also mußte es ihm um anderes gehen. Er hing eine Viertelstunde und länger, oft eine halbe Stunde am Apparat, wahrscheinlich nur um eine Stimme zu hören.

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