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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Aus dem Hintergrund vernahm ich die Geräusche der Wirtschaft, Lärm von einem Spültisch, Lärm von einem Fußballspielapparat. Stiller war kaum zu verstehen. Er muß mich oft als einen kleinlichen Sparer empfunden und in seinem Herzen verflucht haben. Ich kannte seine wirtschaftliche Lage und drängte auf Schluß dieser kostspieligen Gespräche. Wahrscheinlich konnte ich mich nicht genug in seine Lage versetzen. Seine Späße täuschten mich nicht über den Grad seiner Einsamkeit, über sein Verlangen nach einem Freund. Gerade das deutliche Gefühl hiervon machte mich sehr hilflos. Allzu oft konnte ich einfach das Erwartete nicht liefern, denn ich hatte es nicht, und insofern tat er mir Unrecht mit seiner oft ganz plötzlichen Frage: Bist du geizig? Dann aber fuhr er fort: Rede doch etwas, es ist ja egal, aber rede doch etwas! Und regelmäßig schloß er mit der Wendung: Wenn du je nach Glion kommst, was ich janicht mehr glaube –! und verstummte, ohne seinen Hörer aufzuhängen. Ich sagte dann mehrmals Adieu, hörte weiterhin die Geräusche des Spültisches oder die Bestellungen einer welschen Kellnerin am Buffet. Stiller wartete grußlos auf das Abhängen meinerseits. Wir fürchteten diese nächtlichen Anrufe. Oft nahmen wir unser Telefon einfach nicht ab, er versuchte es bis zwei Uhr nachts. Wir hatten einander mehr als anderthalb Jahre nicht gesehen, als ich an einem sonnigen Oktobertag endlich in Montreux ausstieg. Auf dem Perron erkannte ich ihn nicht sogleich: mein eigener früherer Anzug machte eine recht bürgerliche Erscheinung aus ihm, und merkwürdigerweise tat Stiller nicht einen einzigen Schritt auf mich zu. Unsere Begrüßung war nicht unbefangen. In Anbetracht seines steinigen und steilen ›vieux sentier‹ hatte ich lediglich eine Mappe mitgenommen; Stiller wollte sie abnehmen, was ich verweigerte. Als Erscheinung war Stiller in einem verwunderlichen Grad unverändert, sein spärliches Haar etwas grauer und noch etwas spärlicher, seine Glatze noch umfassender. Mein alter Anzug war ihm vor allem an den Ärmeln zu kurz und gab ihm etwas Jungenhaftes. Stiller erkundigte sich sofort nach meiner Frau, dann sehr herzlich auch nach den Kindern; er hatte die Kinder ja gesehen. Und nach wenigen Schritten schon machte uns das Gespräch keinerlei Mühe mehr. Daß ich anderthalb Jahre hatte vergehen lassen bis zum Wiedersehen, kam teilweise wirklich aus beruflichen Verhinderungen, teilweise aber auch nicht; das spürte ich jetzt. Ich hatte wohl eine bestimmte Angst vor diesem Wiedersehen; unsere Freundschaft gründete sich in der Zeit seiner Untersuchungshaft, und es hätte ja sein können, daß sie nun gegen unseren Wunsch überholt war, eine Reminiszenz anstatt einer Gegenwart. In Montreux kaufte Stiller noch Wein, St. Saphorin, »um in der Gegend zu bleiben«. Zwei Flaschen zwängte er in die Rocktaschen und hielt die dritte am Hals wie eine Handgranate; so gingen wir los. Tatsächlich, und fast zu meiner Überraschung, gab es einen ›vieux sentier‹ nach Glion. Steinig und steil, wie beschrieben, führte er zwischen Rebmauern in die Höhe. Wir spürten mit der Zeit unsere reiferen Jahre, etwas außer Atem blieben wir stehen und sahen Schloß Chillon, unter uns Territet mit seinen Hotels, Tennisplätzen, Funiculaires und Chalets, darüber hinaus aber den großen blauen Genfer See. Man fühlte sich hier schon beinahe am Mittelmeer. Einmal die kitschigen Chalets außer acht gelassen, hat diese Landschaft eine befreiende und für unser Land ungewöhnliche Großzügigkeit. Wo an diesem verschandelten Hang nun eine ›ferme vaudoise‹ liegen könnte,war mir allerdings rätselhaft. Auch mußten wir schon bald in Glion sein. Unser Gespräch ging um Weinbau, dann um den Begriff der Kultur, der Muße als Voraussetzung der Kultur und um die Noblesse der Genüsse, um den fundamentalen Unterschied zwischen Kartoffel und Rebe, um die spirituelle Heiterkeit aller Landstriche mit Weinbau, um Zusammenhänge zwischen Luxus und Menschenwürde und so fort – Ich übersah nicht das Schildchen an dem eisernen Gartenzaun: ›Swiss pottery‹. Ohne Unterbrechung des Gesprächs führte mich Stiller, nachdem er das rostige Törlein mit seinem Fuß aufgestoßen hatte, über einen moosigen Kiesweg, an allerlei Gartenzwergen vorbei, zum Haus seines Lebens. Die Verlotterung allerenden rechtfertigte den Mietzins auf den ersten Blick. Vasen aus verschnörkeltem Gußeisen, teilweise beschädigt, eine Aphrodite oder Artemis aus

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