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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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mädchenhaften Haar. Ich glaube, nie einen einsameren Menschen gesehen zu haben als diese Frau. Zwischen ihrer Not und der Welt schien eine Wand zu sein, undurchdringlich,nicht Haltung allein, eher etwas wie eine Gewißheit, nicht gehört zu werden, eine alte und hoffnungslose, nie wieder zu tilgende, ebenso vorwurfsfreie wie unheilbare Erfahrung, daß der Partner doch nur sich selbst hört. Es drängte mich zu fragen, ob sie denn nie in ihrem Leben geliebt worden sei. Natürlich fragte ich nicht. Und liebte sie selbst? Unwillkürlich versuchte ich, sie als Kind zu sehen. Lag es daran, daß sie eine Waise war? Von Minute zu Minute gefaßt darauf, daß Frau Julika sich auszusprechen begänne, schwieg ich auch, hörte dabei ihr regelmäßiges hohles Atmen. Was ist mit diesem Menschen geschehen? Denn daß ein Mensch so sein kann von Anfang an, so ausdruckslos noch im Zustand der schreienden Not, wollte ich nicht glauben. Wer hat sie so gemacht? Stiller war bereits eine Viertelstunde unterwegs, in einer weiteren Viertelstunde würde er wieder hier sein. »Nun warten auch Sie«, begann sie endlich, »daß ich Ihnen etwas sage? Ich habe nichts zu sagen. Wie soll ich mich denn ändern! Ich bin doch so, wie ich bin. Warum will Stiller mich immer ändern?« – »Will er das?« – »Ich weiß«, sagte sie, »vielleicht meint er es gut, er ist überzeugt davon, daß er mich liebt.« – »Und Sie?« fragte ich, »Sie lieben ihn auch?« – »Ich begreife ihn immer weniger«, antwortete sie nach einem mühsamen Besinnen. »Wissen Sie, Rolf, was er immer von mir erwartet? ...« In der Folge, mich selbst zerstreuend, ohne natürlich ihre schreckliche Eröffnung vergessen zu können, hatte ich versucht, meine damaligen Gedanken über Stiller, über seine menschliche Anlage, über Gegebenheiten und Möglichkeiten, über seine Entwicklung in den letzten Jahren, so wie ich sie glaubte erspürt zu haben, zum Ausdruck zu bringen, und zwar in einer Weise, die weder verklagte noch verteidigte, auch kaum beschönigte; dabei hatte ich lange den Eindruck, Frau Julika hörte mir zu. Sicherlich gelang es mir eher, Stiller zu ›verstehen‹ als Frau Julika, und darin sah ich ja auch, nach ihrer letzten Frage, meinen augenblicklichen Auftrag. Während des Sprechens zeichnete ich mit einem Zweig im Kies. Wie ich gelegentlich aufblickte, um zu einem Gedanken, zu einer Frage, die ich als Mann nicht entscheiden konnte, ihre Meinung wenigstens aus ihrer Miene zu lesen, fand ich ein gänzlich entformtes Gesicht; – ich werde dieses Gesicht, das schon keines mehr war, nie vergessen. Ihr Mund war offen wie bei antiken Masken. Vergeblich versuchte sie auf die Lippen zu beißen. Ihr Mund blieb offen, wie erstarrt, zitternd. Ich sah ihr Schluchzen, und dabei war es, als wäre ich taub. Ihre Augen offen ohne Blick, verschwommen in lautlosen Tränen, ihre zwei kleinen Fäusteim Schoß, ein schlotternder Körper, so saß sie da, nicht zu erkennen, mit keinem Ruf zu erreichen, es blieb ihr kein persönlicher Zug mehr, keine Stimme, nichts als ein verzweifelter Leib, ein lautlos schreiendes Fleisch in Todesangst. Was ich tat, weiß ich nicht mehr ... Später, als ich ihre zwei kleinen Fäuste hielt, die noch vor Krampf zitterten, während ihr Gesicht sich in Erschöpfung beruhigt hatte, sagte sie: »Sie dürfen es ihm nicht sagen.« Ich nickte, um irgendwie beizustehen. »Versprechen Sie es mir!« bat sie –
    Kurz darauf kam Stiller mit seinen Trauben. Frau Julika hatte sich rasch erhoben, zur Seite gedreht; aus Entfernung sagte sie etwas von Konfekt und war weg. Stiller ließ nicht locker, ich mußte Trauben kosten, die für den Nachtisch bestimmt waren. Ob er mir wirklich nichts anmerkte oder nur so tat, konnte ich nicht unterscheiden. Stiller beteuerte mir seine Freude über den Besuch, versprach sich einen festlichen Abend. Ich lenkte das Gespräch auf den Wein, als Stiller mich beiläufig fragte, wie ich denn Julika fände. »Ich meine gesundheitlich«, sagte er. »Sieht sie nicht großartig aus?« Wir standen und tranken, die linke Hand in der Hosentasche. Als Frau Julika schließlich mit dem Konfekt kam, trug sie eine wollene Jacke, sah großartig aus. Sie hatte sich gepudert; doch war es nicht das allein. Sie selbst schien nichts zu wissen. Ich hatte das irritierende Gefühl, als handele es sich gar nicht um dieselbe Person; als hätte ich bloß von dieser Frau geträumt. Tatsächlich wurde es kühl, und wir gingen ins Haus. Ich konnte mir nicht

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