Stiller
vorstellen, wie dieser Abend zu verbringen sein würde, doch für Stiller lag nichts Ungewöhnliches vor, auch für Frau Julika nicht.
Zu jener Zeit kannte ich die vorliegenden Aufzeichnungen noch nicht, wußte allerdings, daß Stiller in der Untersuchungshaft etwas wie ein Tagebuch geführt hatte. Es ist nicht der Sinn dieses Nachwortes, daß ich mich in zahllosen Berichtigungen ergehe. Die Mutwilligkeit seiner Aufzeichnungen, seine bewußte Subjektivität, wobei Stiller auch vor gelegentlichen Fälschungen nicht zurückschreckt, scheinen mir offenkundig genug zu sein; als Rapport über ein subjektives Erlebnis mögen sie redlich sein. Das Bildnis, das diese Aufzeichnungen von Frau Julika geben, bestürzte mich; es verrät mehr über den Bildner, dünkt mich, als über die Person, die von diesem Bildnis vergewaltigt worden ist. Ob nicht schon in demUnterfangen, einen lebendigen Menschen abzubilden, etwas Unmenschliches liegt, ist eine große Frage. Sie trifft Stiller wesentlich. Die meisten von uns machen zwar keine Aufzeichnungen, aber wir machen auf eine spurlosere Weise vielleicht dasselbe, und das Ergebnis wird in jedem Fall bitter sein.
Mein Besuch in Glion beschäftigte mich natürlich noch lange nachher. Kurz nach meiner Heimkehr erhielt ich einen Brief von Frau Julika, worin sie mich, ohne Gründe anzugeben, nochmals beschwor, nichts davon zu sagen. Wie immer ich nun darüber denken mochte, hatte ich doch kein Recht, dieses Verschweigen zwischen einem Paar von außen her aufzuheben, ohne Auftrag, nur als zufälliger und wahrscheinlich unerwünschter Mitwisser. Ob die unglückliche Frau Julika fürchtete, Stiller würde den Kopf verlieren und einen unerträglichen Zustand herbeiführen? Ich weiß es nicht. Oder hatte sie Grund zu einiger Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht zur Operation kommen würde? Und das andere, was mich beschäftigte, war natürlich Stiller selbst. Es war etwas mit Stiller geschehen, schien mir. Verstummt war in ihm die leidige Frage, wofür wir ihn halten, verstummt seine Angst vor Verwechslung. Im Umgang mit ihm fühlte ich mich wie aus einem bisher kaum bewußten Zwang entlassen; ich selbst wurde freier. Solange ja ein Mensch nicht sich selbst annimmt, wird er stets jene Angst haben, von der Umwelt mißverstanden und mißdeutet zu werden; es ist ihm viel zu wichtig, wie wir ihn sehen, und gerade mit seiner bornierten Angst, von uns zu einer falschen Rolle genötigt zu werden, macht er zwangsläufig auch uns borniert. Er möchte, daß wir ihn frei lassen; aber er selbst läßt uns nicht frei. Er gestattet uns nicht, ihn etwa zu verwechseln. Wer vergewaltigt wen? Darüber wäre viel zu sagen. Die Selbsterkenntnis, die einen Menschen langsam oder jählings seinem bisherigen Leben entfremdet, ist ja bloß der erste, unerläßliche, doch keineswegs genügende Schritt. Wie viele Menschen kennen wir, die eben auf dieser Stufe stehenbleiben, sich mit der Melancholie der bloßen Selbsterkenntnis begnügen und ihr den Anschein der Reife geben! Darüber war Stiller hinaus, glaube ich, schon als er in seine Verschollenheit ging. Er war im Begriff, den zweiten und noch viel schwereren Schritt zu tun, herauszutreten aus der Resignation darüber, daß man nicht ist, was man so gerne gewesen wäre, und zu werden, was man ist. Nichts ist schwerer als sich selbst anzunehmen! Eigentlich gelingt es ja nur den naiven Menschen, doch habe ich in meiner Welt noch wenig Leute getroffen, die in diesem guten Sinn alsnaiv zu bezeichnen wären. Meines Erachtens hatte Stiller, als wir ihn in der Untersuchungshaft trafen, diese so schmerzvolle Selbstannahme bereits in einem beträchtlichen Grade geleistet. Warum wehrte er sich trotzdem so kindisch gegen seine ganze Umwelt, gegen seine früheren Gefährten? Ich hatte das Glück, jenen früheren Stiller nicht unmittelbar gekannt zu haben; das machte eine vernünftige Beziehung viel leichter; wir trafen einander jetzt. Bei aller Selbstannahme, bei allem Willen dazu, sich endlich unter die eigene Wirklichkeit zu stellen, hatte unser Freund nur eins noch gar nicht geleistet, nämlich den Verzicht auf die Anerkennung durch die Umwelt. Er fühlte sich ein anderer, mit Recht, er war ein anderer als jener Stiller, wofür man ihn sofort erkannte, und davon wollte er jedermann überzeugen; das war das Kindische. Wie aber sollen wir darauf verzichten können, wenigstens von unseren Nächsten erkannt zu werden in unserer Wirklichkeit, die wir selbst nicht kennen,
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