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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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daß Frau Julika, meiner Teilnahme doch gewiß, nie etwas davon mitgeteilt hatte. Doch war das nun einmal ihre Art. Einmal kam das Paket mit den sieben vollgeschriebenen Heften aus der Untersuchungshaft. »Hier meine Papiere!« schrieb Stiller als einziges dazu. Anlaß wie Zweck dieser nie in Aussicht gestellten Sendung blieben mir unklar. Wollte er sie, diese Papiere, aus dem Hause haben, damit ihr Geist ihn nicht heimsuchte? Nach der gelegentlichen Lektüre hoffte ich nur noch dringender denn je, daß Stiller auch gegenüber Frau Julika, die mir in diesen Papieren auf erschreckende Weise vergewaltigt vorkam, endlich zur lebendigen Wirklichkeit vorzustoßen vermöchte, und zugleich beschlich mich die Angst, ob denn die Zeit hierfür noch ausreichte.
     
     
    Im März fand die Operation statt. Wir waren davon nicht in Kenntnis gesetzt, als wir, meine Frau und ich, auf Ostern nach Glion fuhren. Unser Besuch von zwei oder drei Tagen, in Verbindung mit einer kleinen Osterfahrt durchs Welschland, war schon seit längerem vereinbart. Zu unserer Verwunderung standen wir in MON REPOS vor geschlossener Türe. Eine Weile lang, wie ich um das Chalet herumging und von allen Seiten rief, hatte ich das Gefühl, als wären Stiller und seine Frau überhaupt nicht mehr da, nicht mehr in Glion, nicht mehr auf der Erde, verschwunden unter Hinterlassung dieser skurrilen Kitschigkeit, die nie zu ihnen gehört hatte. Die Glastüre zum Souterrain war unverriegelt, aber niemand in der Töpferei. Immerhin sah es hier nach frischer Arbeit aus; auf dem Tisch lag eine ehedem blaue, zur Farblosigkeit verwaschene Schürze, wie in Eile hingeworfen; ein Klumpen feuchten Tons lag auf der Drehscheibe. Wir beschlossen zu warten. Es war ein regnerischer Tag, Nebel hingen über dem Genfer See; wir saßen in unseren Regenmänteln auf der nassen Balustrade, überzeugten einander gegenseitig, daß keinerlei Grund zur Beunruhigung vorläge. Die nassen und infolgedessen besonders glänzenden Gartenzwerge, das Haus mit seinem Efeu und dem Backsteintürmchen, der verrostete Eisenzaun, die Tafel aus falschem Marmor mit der Inschrift, deren Lettern größtenteils ausgefallen waren, das nasse und infolgedessen schwärzliche Moos in dem geborstenen Brunnen, alles war noch da und durchaus unverändert, doch ohne Sonne recht trübselig. Wir bemühten uns denn auchsofort, es durch Witze aufzuhellen, jedoch erfolglos. Das rote Funiculaire fuhr leer. Nach einer Stunde begann es zu dämmern; die Bundesbahn in der Tiefe fuhr mit Lichtern, die Hotels von Montreux prangten mit Lichtern, ringsum war’s einfach grau, und das Haus unseres Freundes blieb ohne Licht. Es tropfte von den Bäumen. »Gehn wir in ein Hotel«, meinte ich, »und rufen wir später an!« Meine Frau war unschlüssig. »Nun haben wir schon so lange gewartet!« meinte sie; darauf rauchten wir nochmals eine Zigarette. Die Lichter von Montreux, wiewohl sie diesen Vergleich nicht vertrugen, erinnerten uns an das glimmende Babylon, das wir vor vielen Jahren, damals in der Rainbow Bar, zu unseren Füßen erblickt hatten ... Stiller kam ohne Mantel und Hut, entschuldigte sich, keinen Zettel an die Tür gesteckt zu haben, er hätte unsere Ankunft wahrhaftig vergessen. Er kam aus der Klinik Val Mont; Frau Julika war vormittags operiert worden. Eben kam er von seiner ersten Visite. Seine nicht gerade verständlichen Erklärungen richtete er vor allem an meine Frau, die wie gelähmt auf der nassen Balustrade sitzenblieb, ihre Hände in den Regenmanteltaschen. Es regnete nun auch. Stiller meldete, voll bangen Vertrauens in die Aussage des Arztes, einen recht befriedigenden Verlauf der Operation, einen sehr glücklichen Verlauf, den denkbar besten Verlauf. Es war mir nicht klar, ob er die Bedeutung der Operation begriff, ob er bloß vor uns bagatellisierte, um nicht auch unseren Schrecken noch ertragen zu müssen. Frau Julika hatte ihn nicht erkannt, auch nichts sprechen können. Es hinge jetzt viel von dieser Nacht ab, erklärte er und klammerte sich an die ärztliche Bewilligung, daß er am andern Morgen um neun Uhr wieder eine Visite machen dürfte, wie an einen sachlichen Trost. »Was stehen wir da im Regen!« sagte er, »gehen wir doch ins Haus, es ist schön, daß ihr gekommen seid!« Im Haus drinnen, bei Licht, war er totenblaß, geschäftig um unsere Koffer bemüht, und ließ es sich nicht nehmen, ein regelrechtes Abendessen zu kochen. Meine Frau hatte wohl recht, ihn nicht an diesem Vorhaben zu hindern,

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