Stiller
sondern bestenfalls nur leben können? Es wird nie möglich sein ohne die Gewißheit, daß unser Leben von einer übermenschlichen Instanz gerichtet wird, ohne wenigstens die leidenschaftliche Hoffnung, daß es diese Instanz gebe. Stiller kam sehr spät dazu. Kam er dazu? Nach jenem ersten Besuch im Herbst gewann ich diesen Eindruck, ohne daß Stiller ein diesbezügliches Wort gesagt hatte; vielleicht gerade darum. Stiller selbst, und dies gehört wohl wesentlich zu seinem Verstummen, hatte gar kein Verlangen, Auskunft zu geben über seine Verwandlung. Auch seine neue Arbeit galt ja nicht dem Ausdruck; er fabrizierte Teller und Tassen und Schalen, lauter nützliche Sachen, meines Erachtens mit viel Geschmack, aber es war nicht mehr Darstellung seiner selbst. Er war frei von der Angst, nicht erkannt zu werden, und in der Folge fühlte man sich freier auch zu ihm, wie aus einem engen Bann entlassen. Ich begriff nun auch, wieso mir bisher, bei aller Zuneigung, stets ein wenig gebangt hatte, Stiller zu begegnen. ›Verstummen‹ mag ein falsches, irreführendes Wort sein. Natürlich war Stiller keineswegs wortkarg. Aber wie jedermann, der bei sich selbst angekommen ist, blickte er auf Menschen und Dinge außerhalb seiner selbst, und was ihn umgab, fing an, Welt zu werden, etwas anderes als Projektionen seines Selbst, das er nicht länger in der Welt zu suchen oder zu verbergen hatte. Er selbst fing an, in der Welt zu sein. Dies war mein Eindruck nach jenem ersten Besuch in Glion, übrigens auch nach seinen Briefen, sofern es nicht um Frau Julika ging. Gegenüber Frau Julika, der Gefährtin von vorher, war es am allerschwierigsten, verständlicherweise, die Versuchung am größten, in alte Ängste undzerstörerische Verwirrungen zu verfallen, weniger weit zu sein, als Stiller es doch tatsächlich, anderen Menschen gegenüber, bereits war. Eine gemeinsame Vergangenheit ist keine Kleinigkeit; die Gewöhnung, die sich bei jedem natürlichen Nachlassen unserer Kräfte einstellt, die Gewohnheiten, die sich auf Schritt und Tritt anbieten, können teuflisch sein. Sie sind etwas wie Schlingpflanzen für die Schwimmer; wer wüßte das nicht! Und anderseits, glaube ich, wußte unser Freund nun um die Unmöglichkeit der Flucht; es half nichts, irgendein neues Leben anzufangen, indem das alte einfach liegenblieb. Ging es für Stiller nicht mehr darum, das Vergangene in seiner Beziehung zu dieser Frau, das Sterile, das diese beiden Leute verkettet hatte, wirklich aus der Welt zu schaffen, nämlich es nicht zu fliehen, sondern es einzuschmelzen in die neue lebendige Gegenwart? Anders wurde diese neue Gegenwart nie ganz wirklich. Darum ging es ja doch, um Verwirklichen oder Versagen, um Atmen oder Ersticken, in diesem Sinn um Leben oder Tod, richtiger: um Leben oder Versiechen. Selbstverständlich braucht die Beziehung zu einer Frau, im Sinn der Ehe, nicht immer dieser letzte Prüfstein zu werden; in diesem Fall war sie es geworden. Es gibt allerlei Sorten von Prüfsteinen; Stiller hatte immerhin den seinen gefunden. Unsere Hoffnung, wie schon erwähnt, begründete sich auf der eigenen frohen Erfahrung, daß Stiller zumindest im Umgang mit seinen Freunden zu einer lebendigen, angstlosen, nicht nur gewollten, sondern wirklichen und selbstverständlichen Bereitschaft gelangt war, daß er, mehr und mehr in sich selbst angekommen, mehr und mehr auf Menschen und Dinge außerhalb seiner selbst zu achten vermochte. Diese liebte oder haßte er. Caux, zum Beispiel, haßte er weidlich und unduldsam, dann auch maßlos. Stiller blieb ein ›Temperament‹, ein wirrer Kopf, und es war gar keine milde All-Liebe in unserem Freund, doch mehr Liebe als je zuvor in seinem Leben, glaube ich, und es war zu hoffen, daß diese Liebe auch Frau Julika, die ihrer so sehr bedurfte, noch erreichen würde.
Der Winter verging ohne ein Wiedersehen. Von Brief zu Brief wartete ich natürlich auf die Nachricht von der bevorstehenden oder hoffentlich schon glücklich überstandenen Operation. Jede mir unverständliche Andeutung (›PS. Wie verhält man sich unter einem Fluch?‹) deutete ich sofort in dem Sinn, daß unser Freund nun auch unterrichtet wäre. Schon der nächste Brief widerlegte mich aber, indem er meine Nachfrage nach Julikas gesundheitlichem Befinden kaum oder mit Zuversichtlichkeit beantwortete.Und mittlerweile war es Februar geworden. Die gefürchtete Operation schien doch nicht notwendig zu sein, und in meiner Erleichterung wunderte ich mich nur,
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