Stiller
sondern sogar mit der Behauptung zu unterstützen, sie hätte Appetit auf etwas Warmes. »Nicht wahr?« sagte er, »nicht wahr?« Sie half ihm denn auch sehr wenig; Tätigkeit war jetzt die einzige Entspannung für unseren Freund. »Weißt du«, erklärte er mir, »diese Operation wird sehr häufig gemacht.« Wenn man ihn hörte, hätte man bald meinen können, daß Leute mit ganzer Lunge geradezu eine Ausnahme darstellten. Er kochte und machte und deckte den Tisch in der Küche, ohne seinen Rock auszuziehen; hätte er einen Mantel getragen,würde er ihn ebenfalls nicht ausgezogen haben. Er war ja bloß wie auf einem Sprung hier; allerdings dauerte es noch vierzehn Stunden bis zur morgendlichen Visite in der nahen Klinik. »Weißt du«, erklärte er mir, »es kam ganz plötzlich, es mußte sein, je rascher um so besser.« Stiller hatte uns einen vortrefflichen Reis gekocht, natürlich aßen wir nur, um einander Mut zu machen. Alle rauchten eine oder mehrere Zigaretten dazu. Meine Frau übernahm das Geschirrwaschen, während Stiller abtrocknete, und dann zog sie sich zeitig zurück. Sie hatte unseren Wagen gefahren, und Stiller glaubte ihr die Müdigkeit. Stiller war in einem Zustand, wo man keines Zweifels fähig ist. Allein mit mir, etwa von neun Uhr an, schien er kein Bedürfnis zu haben, von der Sache selbst zu sprechen oder überhaupt von Frau Julika. Wir entdeckten, daß wir beide einmal Schach gespielt hatten, und wollten doch herausfinden, ob es noch ginge. Ich erinnerte mich kaum noch, wie Pferdchen und Läufer in der Reihe stehen. Er zeigte es mir. Ob wir das Brett so oder anders legen sollten, ein weißes oder schwarzes Feld auf die rechte Seite, wußte auch Stiller nicht mehr. Aber wir spielten. Es war eine Art Nachtwache. Wir spielten bis vier Uhr morgens, als es vor den Fenstern langsam grau wurde, und es schien ein schöner Ostertag zu werden, es war sternenklar. Stiller empfand es wie ein Zeichen.
Frau Julika hatte die Nacht überstanden, den Verhältnissen entsprechend sogar ausgezeichnet, und unser Freund kam aus der Klinik wie ein Begnadigter, wir atmeten auf, dazu ein sonniger Morgen und Ostern; Stiller machte den Vorschlag, ob wir nicht mit ihm wanderten. »Sie hat mich erkannt!« sagte er. Ich habe unseren Freund nie so glücklich gesehen. Wir bummelten auf der Uferpromenade nach Chillon, meine Frau zwischen uns in der Mitte. Stiller war sehr gesprächig, auf zerstreute Art gesprächig, alles durcheinander fiel ihm ein, der jüngste Besuch von seinem Bruder Wilfried, Witze, dann wieder schwärmte er von neuen Freunden in Lausanne, von einem Buchhändler mit Freundin, lauter liebenswerte Menschen gab es auf der Welt. Zwischenhinein war er plötzlich recht schweigsam, dazu taub. Auf den besonnten Steinen des Bahndamms betrachteten wir das zappelige Liebesspiel zweier Eidechsen. Ich fragte unseren Freund nach seinen Einwänden gegen das Schloß Chillon, das er stets mit Spott in seinen Briefen erwähnt hatte, nicht gegen die abgedroschenen Bildchen auf Schokoladen und Spieldosen, sondern gegen die Realität vor unseren Augen. Er hatte keine, und wir fanden das Schloß Chillon mit seinem Gemäuerin der vormittäglichen Sonne sehr schön. Stiller merkte nicht einmal, daß ich ihn ein wenig hatte foppen wollen wegen seiner früheren Keiferei gegen alles in diesem Land. (Was übrigens diese Keifereien betrifft, die mich bei der ersten Lektüre seiner Hefte wohl zu Unrecht verdrossen haben, da Stiller sich mir gegenüber nie in dieser Art ausgelassen hat, so ist es klar, daß unser Freund, nachdem er sich selbst endlich angenommen, keinen Grund mehr hatte, den Fremdling zu spielen; er nahm es an, Schweizer zu sein.) Es war ein blauer dunstiger Märztag, die nahen Walliser Berge erschienen ganz dünn und leicht und silbergrau. »Wie geht es euren Kindern?« fragte er. Er wandte sich etwas betontermaßen stets an mich, nicht an meine Frau, die doch zwischen uns ging. In Villeneuve, Hotel du Port, nahmen wir das Mittagessen, Fisch, dazu Wein von den nahen Hängen. Natürlicherweise dachte er im Grunde fast unablässig an Frau Julika. Von hier aus, glaube ich, sah man die Klinik Val Mont. Zwischen Suppe und Gericht hatte er angerufen. »Sie schlafe!« meldete er. Nur Stiller vertrug den köstlichen, nicht eben leichten Weißwein ohne Benebelung. Stiller trank in den letzten Jahren ziemlich regelmäßig. Daß Ostern waren, zeigte sich hier, nach dem Verstummen der morgendlichen Kirchengeläute, nur noch an
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