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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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einem übermäßigen Verkehr auf der Überlandstraße. Wir wanderten in das Delta der Rhone, von der mittäglichen Sonne etwas geblendet, vom Wein benommen. Fischernetze hingen zum Trocknen. Fischerkähne lagen am Ufer mit der Bodenseite nach oben, um mit frischer Farbe gestrichen zu werden; andere schwammen in einem Kanal mit Schwänen. »Werktags ist man hier ganz allein!« sagte Stiller, doch hatte es auch damals nicht viel Leute. Unser Pfad führte durch lichtes Gehölz am Schilf entlang. Gruppen von Erlen, Birken, Buchen, da und dort eine Eiche, alles Gehölz war noch kahl, und so sah man stets viel luftige Bläue. Auf der Erde lag das graue Herbstlaub vom Vorjahr, von keinem Grün verborgen, und die Erde war stellenweise fast schwarz, Moor. Es ist in meiner Erinnerung einer der schönsten Spaziergänge überhaupt. Zur Rechten über das falbe Schilf hinweg sah man den Genfer See, zur Linken die andere Bläue des ebenfalls weiten, schon von steilen Bergen gefaßten, noch flachen Rhonetales. Wir alle gingen ziemlich still. Ungewöhnlich große Vogelschwärme sammelten sich auf einer fernen Hochspannungsleitung, wir errieten die Vogelart nicht; jedenfalls sammelten sie sich zu ihrem großen Flug nach Norden. Zwei Burschen im blauen Trainer und mit nackten Oberkörpern verbrannten Schilf auf einem Haufen mit hellen durchsichtigenFlammen. Der Rauch erinnerte an Herbst, dabei war es ja März, und die Vögel zwitscherten. Ich bedauerte nun meinen Wein im Kopf, lange ging ich wie unter einem Schleier, und Stiller wollte allerhand wissen. Er erkundigte sich nach meiner eignen Arbeit, nach meinen Ansichten in Erziehungsfragen. Wir fanden einen recht einsamen Platz am Ufer, trotzdem war es eigentlich geräuschvoll; über der Wasserfläche summte es von fernen Eisenbahnzügen, man hörte immer wieder einmal das Signal von einem Bahnhof, dazu gurrte es im Schilf, raschelte und tuschelte allenthalben, Vögel schrien, klatschten beim Start mit ihren Flügeln auf dem glatten Wasser. Die Sonne machte sehr warm, der Boden hingegen erwies sich als feucht und kühl. Stiller rupfte nun büschelweise das dürre Riedgras, um meiner Frau einen bequemen Platz zu schaffen. Mein Angebot seiner Lieblingszigarre vermochte ihn nicht abzuhalten, und schließlich wurde es ein wahres Nest, meine Frau lobte es gebührend, ließ sich nieder und schloß ihre Augen vor der Sonne. Stiller strich ihr mit der Hand über die Stirn. In den übrigens seltenen Augenblicken solcher Art wurde mir das Vergangene doch sehr bewußt; unsere Gegenwart zu dritt bestürzte mich dann wie etwas Unmögliches, zumindest Unerwartetes. Wir rauchten nun also unsere Zigarren. Leider erblickte man von hier wiederum das aufdringliche Hotel oben in Caux, Stiller konnte nicht umhin, abermals davon anzufangen. Sein Standpunkt: »Sie vollbringen Wunder dort oben, kein Zweifel, sie produzieren Christentum einmal nicht mit den Armen, sondern mit den Reichen, wo es scheinbar mehr abwirft, und da erreichen sie es denn wahrhaftig, daß so ein Wegelagerer, nachdem er genug erbeutet hat, in sich geht und seine zwei, drei, vier oder neun Millionen für Seelenfrieden ausgibt oder doch wenigstens dafür, dem Kommunismus rasch eine bessere Ideologie entgegenzustellen, für seine eigene Person nur noch eine einzige Million behält, um nicht der Gemeinde als alter Mann zur Last zu fallen; ich kann solches Christentum halt nicht riechen; sieben Millionen, sagen sie, sind besser als nichts, und alles in einer so freiwilligen und menschlichen Art zurückerstattet, weißt du, daß die Arbeiter aller Länder, wenn sie einigermaßen Takt haben, nie gegen einen Wegelagerer vorgehen sollten, denn die Möglichkeit, daß so ein kapitalistischer Wegelagerer plötzlich in sich geht und die Welt einfach von innen heraus verbessert, ist in dem Hotel dort oben nun ein für allemal erwiesen, also bitte, wenn ihr eine bessere Welt haben wollt, bitte keine Revolution!« Meine Frau war unterdessen eingeschlummert, und um sie nicht mit unserenStimmen zu stören, gingen Stiller und ich hinunter ans Ufer, unterhielten uns über Kieselsteine, über Geologie nach Mindestkenntnissen. Dann versuchten wir wie in Bubenzeiten zu schiefern, flache Steinchen über dem Wasserspiegel hüpfen zu lassen. Zum Zwecke eines Wettkampfes zogen wir unsere sonntäglichen Vestons aus. Eine Zeitlang schien alles vergessen zu sein, die Klinik Val Mont war zu sehen, doch wußten wir ja, daß es der armen Frau Julika sozusagen

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