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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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oder nicht; eine Weile lang, dann ist es, als schließe es sich wieder, ihr Gesicht, und wieder die fixe Idee:
    »Anatol, was ist mit dir?«
    Wieder sage ich:
    »Mein Name ist White.«
    Sie dreht den Spieß einfach um – tut, als läge die fixe Idee bei mir. Sie wirft ihre noch brennende Zigarette zum Gitterfenster hinaus (was strengstens verboten ist, wie so vieles hier) und stellt sich vor mich, freilich ohne mich anzufassen, jedoch gewiß, daß ich sie schon fassen werde, plötzlich überwältigt von Reue sie schon um Verzeihung bitten werde. Und für Augenblicke, in der Tat, ist man einfach wehrlos, man lächelt, wiewohl es gar nicht komisch ist: Ich könnte aussehen wie ein Gnom, wie ein Minotaurus, wie – ich weiß nicht was! – und es würde nichts ändern, überhaupt nichts, sie ist einfach außerstande, ein anderes Wesen wahrzunehmen als ihren verschollenen Stiller.
    »Ich dachte nicht«, sagt sie, »daß du je eine Glatze bekommen würdest! Aber es steht dir nicht einmal schlecht.«
    Man verstummt einfach. Man ist ohnmächtig. Man könnte diese Dame packen und erwürgen, und sie würde nicht aufhören zu glauben, daß ich ihr verschollener Gatte bin.
    »Warum hast du nie geschrieben?«
    Ich schweige.
    »Ich wußte nicht einmal, ob du noch lebst –«
    Ich schweige.
    »Wo bist du nur all die Jahre gewesen?«
    Ich schweige.
    »Du schweigst! –«
    Ich schweige.
    »Einfach zu verschwinden!« sagt sie, »einfach nichts mehr von sich hören zu lassen! Und das gerade in jener Zeit! Ich hätte sterben können –«
    Einmal sage ich:
    »Jetzt aber Schluß!«
    Ich weiß nicht mehr, was sie noch alles redete, sie trieb es, bis ich sie packte, und noch dann, unerschütterlich in ihrer fixen Idee, indem sie jede Regung von meiner Seite, ob Lachen oder Zittern, nur als Bestätigung nahm, hörte sie nicht auf, mir zu verzeihen, ich packte sie, ich schüttelte sie, daß es nur so von Kämmlein regnete, und schleuderte sie auf die harte Pritsche, die Dame, so daß sie mit geplatzter Bluse, mit verwursteltem Tailleur, mit verzausten Haaren und mit unschuldig-verdutztem Gesicht liegenblieb, außerstande sich aufzurichten, da ich auch auf der Pritsche kniete, mit meiner linken Faust ihre beiden heißen Hände hielt, und zwar so,daß sie vor Schmerz ihre ungemein schönen Augen schloß. Ihre offenen Haare sind köstlich, duftig, seidenleicht. Sie atmete wie nach einem Lauf mit pumpender Brust, mit offenem Mund. Ihre Schneidezähne sind vortrefflich, nicht ohne Plomben, sonst aber von einem schönen Perlmutterglanz. Und da meine andere Hand ihren zarten Unterkiefer umklammerte, war sie außerstande zu reden. Ich betrachtete sie wie einen Gegenstand, plötzlich ganz nüchtern, ein Weib, ein fremdes, irgendein Weib. Wäre nicht Knobel, mein Wärter, mit dem Aschenbecher gekommen –
     
     
    Es gibt keine Flucht. Ich weiß es und sage es mir täglich. Es gibt keine Flucht. Ich bin geflohen, um nicht zu morden, und habe erfahren, daß gerade mein Versuch, zu fliehen, der Mord ist. Es gibt nur noch eins: dieses Wissen auf mich zu nehmen, auch wenn dieses Wissen, daß ich ein Leben gemordet habe, niemand mit mir teilt.
     
     
    Hirngespinste! Ich soll mein Leben erzählen, und wenn ich versuche, mich verständlich zu machen, sagen sie: Hirngespinste! (Ich weiß jetzt wenigstens, woher mein Verteidiger dieses Wort mitsamt dem herablassenden Lächeln hat!) Er hört zu, solange ich von meinem Haus in Oakland rede, von Negern und anderen Tatsachen; sowie ich zur wahren Geschichte komme, sowie ich mitzuteilen versuche, was nicht mehr mit Fotos zu belegen ist, beispielsweise was geschieht, nachdem man sich eine Kugel in die Schläfe geschossen hat, putzt mein Verteidiger sich die Fingernägel, wartet nur darauf, mich zu unterbrechen mit irgendeiner Lappalie:
    »Sie hatten ein Haus in Oakland?«
    »Ja«, sage ich kurz, »warum?«
    »Wo liegt Oakland?«
    »Gegenüber von San Francisco.«
    »Ah«, sagt mein Verteidiger, »wirklich?«
    Es war vier Meter breit und dreizehn Meter lang (mein Verteidiger notiert, das ist es, was er wissen will!) und eigentlich, um ganz genau zu sein, war es eher eine Schindelhütte. Ehedem das kleine Gesindehaus einer Farm, die Farm wurde von der Stadt gefressen, nur die Schindelhütte ist geblieben, jedoch verlottert. Dazu ein riesenhafter Baum, Eukalyptus, ich werde sein Silberrieseln nie vergessen. Ringsum nichts als Dächer, einHimmel voll schiefer Telefonstangen mit flatternder Wäsche nachbarlicher

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