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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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draußen, wie gesagt, neben mir die Dame aus Paris, deren Gesicht ich nicht kenne; mit der etwas höhnischen Erklärung, jener Stigma-Hausierer sei ihr Mann, zeigt sie mir ebenfalls ihre Hände: ebenfalls mit zwei hellroten Wundmalen,wobei es offenbar, nur soviel ahne ich, zwischen den beiden darum geht, wer das Kreuz ist und wer der Gekreuzigte, all dies unausgesprochen; die Leute an den Kaffeehaus-Tischlein mit der Illustrierten ...)
     
     
    Mein Wärter möchte wissen, wer Helen ist. Er hat den Namen eben im Büro des Staatsanwalts gehört. Mein Wärter weiß bereits, daß sie die Gattin eines amerikanischen Sergeanten war; ferner: daß der betreffende Sergeant eines frühen Morgens aus der Navy kam und uns in der Wohnung überraschte ... Zu müde, um schon wieder einen Mord zu erzählen, sage ich dann nur:
    »Es war ein reizender Kerl.«
    »Ihr Mann?«
    »Er verlangte von seiner Frau, daß sie zum Psychoanalytiker gehe, und sie verlangte von ihm das gleiche.«
    »Und?«
    »Das war alles.«
    Mein Wärter ist enttäuscht, aber darin ist auch etwas Gutes, merke ich mehr und mehr; gerade die enttäuschenden Geschichten, die keinen rechten Schluß und also keinen rechten Sinn haben, wirken lebensecht.
    Sonst nichts Neues.
     
    PS.
    Was sie sich von solchen Lokaltermin-Fahrten versprechen, weiß ich nicht. Den Plan, mich ins Atelier ihres Verschollenen zu führen, haben sie offenbar aufgegeben, zumindest verschoben infolge meines Versprechens, daß ich dem Kerl, der mir so viel Schererei bereitet, alles kurz und klein schlagen werde. Jetzt, höre ich, wollen sie mit mir nach Davos fahren. Wozu?
     
     
    Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: »Ich kenne dich.«
    Mein Verteidiger ist außer sich, wie es ja früher oder später zu erwarten war, dabei nicht unbeherrscht, nur bleich vor Beherrschung. Ohne Morgengruß, stumm, die Ledermappe auf sein Knie gestemmt, blickt er in meine verschlafenen Augen, wartet, bis er mich gesammelt genug findet, neugierig genug, den Grund seiner Entrüstung kennenzulernen.
    »Sie lügen«, sagt er.
    Wahrscheinlich hat er erwartet, daß ich erröte; er hat noch immer nicht begriffen.
    »Wie soll ich Ihnen fortan glauben können?« klagt er, »jedes Wort aus Ihrem Mund beginnt für mich fragwürdig zu werden, höchst fragwürdig, nachdem ich ein solches Album in die Hände bekomme – Bitte!« sagt er, »sehen Sie sich diese Fotos selber an!«
    Es sind Fotos, zugegeben, und daß zwischen dem verschollenen Stiller und mir gewisse äußere Ähnlichkeiten vorliegen, will ich nicht bestreiten; trotzdem sehe ich mich selber sehr anders.
    »Warum lügen Sie?« fragte er immer wieder. »Wie soll ich Sie denn verteidigen können, wenn Sie nicht einmal mir gegenüber die volle und ganze Wahrheit sagen?«
    Er kann’s nicht fassen.
    »Woher haben Sie dieses Album?« frage ich.
    Keine Antwort.
    »Und mir gegenüber wagen Sie zu behaupten, daß Sie nie in diesem Land gelebt hätten, ja, daß Sie sich ein Leben in unsrer Stadt nicht einmal vorstellen können!«
    »Nicht ohne Whisky«, sage ich.
    »Bitte!« sagt er, »hier!«
    Manchmal versuche ich ihm zu helfen.
    »Herr Doktor«, sage ich, »es hängt alles davon ab, was wir unter Leben verstehen! Ein wirkliches Leben, ein Leben, das sich in etwas Lebendigem ablagert, nicht bloß in einem vergilbten Album, weiß Gott, es braucht ja nicht großartig zu sein, nicht historisch, nicht unvergeßlich, Sie verstehen mich, Herr Doktor, ein wirkliches Leben, und das kann das Leben einer sehr einfachen Mutter sein oder das Leben eines großen Denkers, eines Gründers, dem es sich in Weltgeschichte ablagert, aber das muß nicht sein, meine ich, es kommt nicht auf unsere Bedeutung an. Daß ein Leben ein wirkliches Leben gewesen ist, es ist schwer zu sagen, worauf es ankommt. Ich nenne es Wirklichkeit, doch was heißt das! Sie können auch sagen: daßeiner mit sich selbst identisch wird. Andernfalls ist er nie gewesen! Sehn Sie, Herr Doktor, das meine ich: ein Gewesen-Sein, und wenn’s noch so miserabel war, ja, am Ende kann es sogar eine bloße Schuld sein, das ist bitter,

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