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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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wenn sich unser Leben einzig und allein in einer Schuld abgelagert hat, in einem Mord zum Beispiel, das kommt vor, und es brauchen keine Aasgeier darüber zu kreisen, Sie haben recht, Herr Doktor, das alles sind ja nur Umschreibungen. Sie verstehn mich? Ich rede sehr unklar, wenn ich nicht zur Entspannung einfach drauflos lüge? Ablagerung ist auch nur ein Wort, ich weiß, und vielleicht reden wir überhaupt nur von Dingen, die wir vermissen, nicht begreifen. Gott ist eine Ablagerung! Er ist die Summe wirklichen Lebens, oder wenigstens scheint es mir manchmal so. Ist das Wort eine Ablagerung? Vielleicht ist das Leben, das wirkliche, einfach stumm – und hinterläßt auch keine Bilder, Herr Doktor, überhaupt nichts Totes! ...«
    Aber meinem Verteidiger genügt das Tote.
    »Bitte sehr!« sagt er, »hier: – wie Sie die Schwäne füttern, niemand anders als Sie, und im Hintergrund, Sie sehen es ja selbst, das Großmünster von Zürich! Bitte sehr.«
    Es ist nicht zu bestreiten: im Hintergrund (etwas unscharf) sieht man eine Art kleiner Kathedrale, Großmünster, wie mein Verteidiger es nennt.
    »Es hängt wirklich alles davon ab«, sage ich nochmals, »was wir unter Leben verstehen –«
    »Hier!« sagt mein Verteidiger, indem er weiterhin in dem Album blättert, »bitte sehr: – Anatol in seinem ersten Atelier, Anatol auf dem Piz Palü, Anatol als Rekrut mit geschorenem Haar, Anatol vor dem Louvre, Anatol im Gespräch mit einem Stadtrat anläßlich einer Preisverleihung –«
    »Und?« frage ich.
    Wir verstehen einander immer weniger. Wäre nicht die Zigarre, die er mir trotz seiner Verärgerung gebracht hat, ich würde mit meinem Verteidiger überhaupt nicht mehr sprechen, und es wäre besser, glaube ich. Was kommt bei diesen Verhören schon heraus! Umsonst versuche ich ihm klarzumachen, daß ich die volle und ganze Wahrheit selber nicht weiß, anderseits auch nicht gewillt bin, mir von Schwänen oder Stadträten beweisen zu lassen, wer ich in Wahrheit sei, und daß ich jedes weitere Album, das er in meine Zelle bringt, auf der Stelle zerreißen werde. Umsonst! Mein Verteidiger will es sich nicht aus dem Kopf schlagen, daß ich Stiller zu sein habe, bloß damit er mich verteidigen kann, und nennt es alberne Verstellung,wenn ich mich dafür wehre, niemand anders als ich selbst zu sein. Wieder endet es mit gegenseitiger Brüllerei.
    »Ich bin nicht Stiller!« brülle ich.
    »Wer denn«, brüllt er, »wer denn?«
     
    PS.
    Seine Zigarre beschämt mich. Eben habe ich das spröde Knöpfchen abgebissen, dann die ersten, immer so besonders trockenen und besonders duftigen Züge geraucht, bald genug von dem Aroma verblüfft, so daß ich die Zigarre nochmals von den Lippen nehme, um sie mit Bewußtsein zu besichtigen. Dannemann! Meine Leibmarke! Legitimos! So ist er dann wieder –
     
     
    Gestern in Davos. Es ist genau so, wie Thomas Mann es beschrieben hat. Dazu regnet es den ganzen Tag. Trotzdem muß ich eine ganz bestimmte Promenade abschreiten, von Julika genötigt, Eichhörnchen zu sehen, und von meinem Verteidiger mehrmals mit Tannzapfen bedient, um daran zu riechen. Als leugnete ich den würzigen Duft der Tannzapfen! Später, in einem ganz bestimmten Restaurant, muß ich Schnecken essen, was bekanntermaßen sehr lecker ist, aber nachher stinkt man nach Knoblauch. Dabei, merke ich sehr wohl, blicken sie einander immer wieder an, Julika und mein Verteidiger, und warten irgendwie darauf, daß ich in ein Geständnis ausbreche oder mindestens in Tränen. Ich genieße es doch sehr, wieder einmal mit einem weißen Tischtuch zu tafeln. Da kein Gespräch entstehen will, erzähle ich von Mexiko, die Berge ringsum, obzwar sehr klein, erinnern an den Popocatepetl, an den Cortez-Paß, und die Eroberung von Mexiko halte ich nach wie vor für eine der faszinierendsten Geschichten.
    »Mag sein«, sagt mein Verteidiger, »aber wir sind ja nicht hier, damit Sie uns von Cortez und Montezuma erzählen!«
    Sie haben mir das Sanatorium zeigen wollen, wo Julika seinerzeit gelegen hat; es ist inzwischen niedergebrannt, und mein Verteidiger ist darüber sehr untröstlich. Nach dem Essen gibt es Kaffee, Kirsch und Zigarre nach Wahl. Ich wundere mich, wozu sie sich die Spesen machen. Der kleine Ausflug kostet gegen zweihundert Schweizer Franken; mein Verteidiger und ich reisen mit dem staatlichen Gefängniswagen (Verpflegung für Fahrerund Gendarm kommen noch hinzu!), Julika mit der Bahn. Bei besserem Wetter wäre es eine nette Landschaft,

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