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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Kinder und unter freier Verwendungeines Traums, den ich neulich hatte: Isidor gibt, sooft er auftaucht, keine Schüsse in die Torte, sondern zeigt nur seine beiden Hände mit Wundmalen ... Ein verrückter Traum!
    »Ach«, seufzt meine Dame, »du bist noch immer der gleiche, kein vernünftiges Wort kann man reden mit dir, immer kommst du mit deinen Hirngespinsten!«
    Es ist komisch, dann ärgerlich, irgendwie auch ergreifend: Diese Dame aus Paris, wie sie so auf meiner Pritsche sitzt in ihrem schwarzen Tailleur, Zigarette um Zigarette raucht, ist alles andere als eine dumme Person, und man könnte sich einen Nachmittag voll reizender Unterhaltung denken, sogar mehr als einen Nachmittag. Vor allem ihr etwas müdes, aus irgendeinem Grunde bitteres Lächeln ist bezaubernd, erweckt Neugierde nach der Erfahrung, die hinter ihr steht, und man blickt unwillkürlich immer wieder auf ihre Lippen, seiner eigenen Lippen bewußt. Aber: sie kommt nicht los, scheint es, von der fixen Idee, mich zu kennen. Sie glaubt’s einfach nicht, daß man jemand anders sein könnte als ihr verschollener Stiller. Die ganze Zeit redet sie von ihrer Ehe, die, wie ich vernehme, auch nicht so gewesen ist, wie eine Ehe sein sollte. Ich zeige mehrmals mein Bedauern. Als ich endlich zu Wort komme – sie redet nicht etwa überbordend, im Gegenteil, sie redet mit viel Pausen, die sie mit hastigem Rauch erfüllt, mit ganzen Minuten bitteren Schweigens dazwischen, die man noch weniger zu unterbrechen wagt als einen Wortschwall –, sage ich:
    »Ich nehme an, man hat Sie unterrichtet, Madame, daß Sie mit einem Mörder sprechen –«
    Sie überhört es wie einen verfehlten Spaß.
    »Ich bin ein Mörder«, wiederhole ich bei nächster Gelegenheit, »auch wenn die schweizerische Polizei es nicht herauszufinden imstande ist. Ich habe meine Gattin ermordet –«
    Vergeblich!
    »Du bist ja komisch!« sagt sie. »Du bist wirklich komisch, ich muß schon sagen, in dieser Stunde, nachdem man sich ein halbes Leben lang nicht gesehen hat, kommst du wieder mit deinen Hirngespinsten, deinen kindischen Hirngespinsten!«
    Ihr Ernst, zugegeben, macht mich für Augenblicke immer wieder unsicher, wenn auch nicht in bezug darauf, daß ich meine Gattin ermordet habe, aber unsicher, ob es mir gelingen wird, diese unglückliche Dame von ihrer fixen Idee zu erlösen. Was will sie eigentlich von mir! Ich versuche esgleichfalls mit Ernst, sie zu überzeugen, daß eine Ehe zwischen uns nie bestanden hat; mit Ernst, auch wenn sie von meiner Pritsche aufspringt, in meiner Zelle hin und her geht, ihre roten Haare schüttelt, vor meinem Gitterfenster stehenbleibt, rauchend, die schmalen Hände in den knappen Taschen ihres straffen Tailleurs, schweigend, Blick in die herbstliche Kastanie hinaus, so daß ich ihr Gesicht nicht sehe.
    »Madame«, sage ich und bediene mich von ihren Zigaretten, »Sie sind mit dem Flugzeug gekommen, um Ihrem verschollenen Mann zu verzeihen; auf diese ernste oder geradezu feierliche Stunde, ich verstehe, haben Sie jahrelang gewartet, und es ist natürlich ein Schlag für Sie, daß ich nicht der Mann bin, den Sie mit Ihrem ganzen Bedürfnis, alles zu verzeihen, erwartet haben. Ich bin’s nicht, Madame –«
    Darauf bläst sie nur ihren Rauch aus.
    »Ich denke«, sage ich und rauche nun ebenfalls, »das liegt auf der Hand, darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten.«
    »Was liegt auf der Hand?« fragt sie.
    »Daß ich nicht Ihr verschollener Mann bin.«
    »Wieso nicht?« fragt sie, ohne mich anzusehen.
    Ich sehe wenigstens ihren grazilen Hinterkopf.
    »Madame«, sage ich mit unvermindertem Ernst, »es rührt mich durchaus, Sie von Ihrer unseligen Ehe sprechen zu hören, aber nehmen Sie’s nicht übel, ich verstehe immer weniger, je länger ich Sie höre, und eigentlich überhaupt nicht, was Sie von mir wollen. Von mir: ich habe meine Gattin ermordet, wie gesagt, und eine Dame wie Sie, die in so blühender Manier, Gott sei Dank, ihre unglückliche Ehe überlebt hat – offen gesprochen, ich verstehe nicht, was Sie mir verzeihen wollen?«
    Schweigen.
    »Sie leben in Paris?« frage ich.
    Daraufhin wendet sich die Gestalt; ihr Gesicht, von stiller Bestürzung etwas entlarvt und schöner als zuvor, lebendiger, so daß eine Begegnung, meint man, möglich sein müßte, eine Begegnung in Wahrheit, ihr Gesicht ist so, daß ich sie auf die Stirne küssen möchte, eine Weile lang, und vielleicht hätte ich’s tun sollen, gleichviel, ob sie es dann mißdeutet

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