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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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als meine Zigarre – nur so konnte ich meinen geschäftigen Verteidiger überhaupt zum Zuhören, zum aufmerksamen Zuhören nötigen.
    Das Märchen lautet etwa folgendermaßen:
    Rip van Winkle, ein Nachkomme jener unerschrockenen van Winkles, die unter Hendrik Hudson dereinst das amerikanische Land erschlossen hatten, war ein geborener Faulenzer, dabei, wie es scheint, ein herzensguter Kerl, der nicht um der Fische willen fischte, sondern um zu träumen, denn sein Kopf war voll sogenannter Gedanken, die mit seiner Wirklichkeit wenig zu tun hatten. Seine Wirklichkeit, ein gar braves Weib, die jedermann im Dorf nur bedauern oder bewundern konnte, hatte es denn auch nicht leicht mit ihm. Rip fühlte es wohl, daß er einen Beruf haben müßte, einen männlichen Beruf, und liebte es, sich als Jäger auszugeben, denn dies hatte den Vorteil, daß er sich tagelang umhertreiben konnte, wo ihn niemand sah. Meistens kam er ohne eine einzige Taube zurück, beladen nur mit schlechtem Gewissen. Sein Häuschen war das lottrigste im ganzen Dorf, zu schweigen von seinem Garten. Nirgends gedieh das Unkraut so munter wie in seinem Garten, und immer waren es seine Ziegen, die sich verliefen und in die Schluchten stürzten. Er trug es ohne Gram, denn er war ein innerlicher Mensch, im Gegensatz zu seinen Vorfahren, die immer so tatendurstig aus den alten Bildern blickten. Tagelang hockte er vor seinem lottrigen Häuschen, das Kinn in die Faust gestützt, und sann darüber nach, warum er nicht recht glücklich wurde. Er hatte eine Frau und zwei Kinder, aber glücklich war er nicht. Er hatte mehr von sich erwartet; er war fünfzig Jahre alt und erwartete es noch immer, auch wenn seine brave Frau undseine Kumpane darüber lächelten. Nur Bauz, sein zottiger Hund, verstand ihn und wedelte mit dem Schwanz, wenn Rip nach seiner Flinte griff, um auf die Eichhörnchenjagd zu gehen. Die Flinte, ein schweres Ding mit viel Zierat, hatte er von seinen Vorfahren ererbt. Sie lächelten wohl heimlich, wenn Rip von seiner Jägerei erzählte; stets hatte er mehr erlebt als geschossen. Und da sich seine Geschichten nicht braten ließen, hatte seine Frau, Mutter von zwei Kindern, lange schon genug davon; sie schimpfte ihn einen Faulenzer, und zwar offen heraus, was er nicht vertrug. So kam es, daß Rip fast jeden Abend, um seine Geschichten loszuwerden, in der Wirtschaft des Dorfes hockte, wo immer einige zuhörten, auch wenn man seine Geschichten nicht braten konnte; sein prächtiges Gewehr und der müde Hund zu seinen Füßen waren Zeugen genug, wenn Rip von seiner Jägerei erzählte. Die Leute mochten ihn ganz gerne, denn Rip redete ja niemandem zuleide, im Gegenteil, stets hatte er ein wenig Angst vor der Welt, scheint es, und brauchte es sehr, daß die Leute ihn mochten. Ein wenig soff er wohl auch. Und wenn niemand zuhörte, schadete es auch nichts; jedenfalls gingen sie nicht vor Mitternacht nach Hause, Rip und sein Hund, der seinen Schwanz zwischen die Hinterbeine klemmte, sobald er Frau van Winkle kommen hörte, denn jeden Abend gab es ein Gerede, wovon Rip so wenig verstand wie sein Hund, einfach ein Gerede, während er die Stiefel auszog, und es lag natürlich auf der Hand, daß es so nicht weiterginge, aber das lag es eigentlich schon seit Jahren ... Einmal zogen sie wieder auf die Eichhörnchenjagd, Rip und sein treuer Hund, strammen Schrittes, solange das Dorf sie sehen konnte; dann, wie üblich, machte Rip seinen ersten Halt, futterte ein bißchen von seinem Imbiß, und Bauz paßte auf, ob jemand um den Hügel käme. Dafür, wie üblich, bekam Bauz einen kleinen Knochen, und Rip steckte sich seine Pfeife an, um dem braven Hund, der laut an dem kahlen Knochen fletschte, auch eine geziemende Muße zu gönnen. Endlich trotteten sie weiter in den Morgen hinaus, in das weite Hügelland über dem glitzernden Hudson, eine herrliche Gegend, wie man noch heute feststellen kann, und es fehlte nicht an Eichhörnchen. Gott weiß, warum Rip sich vor allen Leuten immerfort als Jäger ausgab! In Gedanken versunken, die nie ein Mensch erfahren hat, schlenderte er durch den Wald. Auch Hasen gab es hier, ja sogar ein Reh! Rip blieb stehen und betrachtete das verwunderte Tier mit Andacht, die Hände in den Rocktaschen, die Flinte an der Schulter, die Pfeife im Mund. Das Reh, das ihn offenbar durchaus nicht für einen Jäger hielt, schicktesich an, in Gelassenheit zu weiden. Man muß ein Jäger sein! sagte sich Rip, indem er plötzlich an die abendliche

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