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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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kein Zweifel. Einmal, unten im Tal, überholen wir das Bähnchen. Julika winkt.
     
     
    Meine Angst: die Wiederholung –!
     
     
    Frau Julika Stiller-Tschudy hat meine alte Narbe über dem rechten Ohr entdeckt und möchte wissen, woher ich sie habe. Sie gibt keine Ruhe. Ich sage:
    »Es hat mich einer erschießen wollen.«
    »Nein«, sagt sie dringend, »im Ernst –«
    Ich erzähle ihr eine Geschichte.
     
    PS.
    Julika, je öfter ich sie sehe, ist doch sehr anders, als ich nach dem ersten Besuch meinte. Wie sie ist, wüßte ich nicht zu sagen. Sie hat Augenblicke unvermuteter Grazie, vor allem, wenn mein Verteidiger nicht dabei ist, Augenblicke von entwaffnender Unschuld, ein plötzliches Erblühen aus Mädchenjahren, die nie gelebt worden sind, ein Gesicht wie zum ersten Male, wenn der Hauch des Schöpfers es erweckt. Sie ist dann selber wie erstaunt, eine Dame in schwarzem Tailleur und mit Pariser Hut, meistens mit einem Schleier von Zigarettenrauch umgeben, wie erstaunt, daß noch kein Mann sie erkannt hat. Ich begreife diesen verschollenen Stiller nicht! Sie ist ein heimliches Mädchen, das da wartet in der Hülle fraulicher Reife, für Augenblicke schön, daß man einfach betroffen ist. Hat Stiller es nicht gesehen? Es gibt nichts Frauliches, was diese Frau nicht wenigstens als Möglichkeit hat, verschüttet vielleicht, und allein ihre Augen (wenn sie mich einen Augenblick lang nicht für Stiller hält!) haben einen Glanz der offenen Erwartung, daß man eifersüchtig ist auf den Mann, der sie einmal erwecken wird.
     
     
    Wiederholung! Dabei weiß ich: alles hängt davon ab, ob es gelingt, sein Leben nicht außerhalb der Wiederholung zu erwarten, sondern die Wiederholung, die ausweglose, aus freiem Willen (trotz Zwang) zu seinem Lebenzu machen, indem man anerkennt: Das bin ich! ... Doch immer wieder (auch darin die Wiederholung) genügt ein Wort, eine Miene, die mich erschreckt, eine Landschaft, die mich erinnert, und alles in mir ist Flucht, Flucht ohne Hoffnung, irgendwohin zu kommen, lediglich aus Angst vor Wiederholung –
     
     
    Heute beim Duschen meinte der kleine Jude während der Einseiferei, vermutlich sähen wir einander zum letztenmal, nämlich er werde sich demnächst aufhängen. Ich lachte und riet ihm ab. Dann wieder Einzelmarsch durch die Korridore, das Frottiertuch um den Hals –
    Das Neueste:
    »Jetzt geht’s ja nicht mehr lange«, meinte Knobel, »und Sie kommen endlich zu Ihrem Whisky, Mister White, vielleicht noch in dieser Woche!«
    Auf meine Frage, was er damit meinte, verstummt er; ich merke sofort, daß er etwas gehört hat, jedoch nicht davon plaudern dürfte. Zum Schluß, den Suppeneimer in der Hand, sagt er es dann doch:
    »Sie haben der Dame sehr gefallen, scheint es.«
    »Und?«
    »Jedenfalls hat die Dame eine Kaution hinterlegt«, sagt er mit gedämpfter Stimme, »eine hübsche Summe!«
    »Wofür?«
    »Nun ja – für Sie, Mister White!« grinst er und zwinkert mit dem Auge, »damit Sie mit der Dame spazieren dürfen –!«
     
     
    Noch einmal (zum letztenmal!) habe ich heute den Versuch unternommen, meinem so beflissenen Verteidiger aus seinem nachgerade ergreifenden Mißverständnis meiner Lage, das ihm so viel Arbeit verursacht, vergebliche Arbeit und so viel Ärger mit mir, der ich anderseits für seine tägliche Zigarre doch so dankbar bin, herauszuhelfen –
    »Kennen Sie«, fragte ich und biß gerade wieder das trockene Knöpfchen von der Zigarre, »das Märchen von Rip van Winkle?«
    Statt Antwort gab er Feuer.
    »Ein amerikanisches Märchen«, sagte ich mit der Zigarre im Mund und also etwas undeutlich. »Ich habe es als Bub einmal gelesen, vor Jahrzehnten also, in einem Buch von Sven Hedin, glaube ich. Sie kennen es?«
    Dazu (was wichtig ist) hielt ich sein silbernes Feuerzeug mit Flämmchen, ohne jedoch die duftende Zigarre, diese immerhin einzige Wollust in meiner Untersuchungshaft, anzuzünden, nein, aller Begierde zum Trotz wiederholte ich meine Frage:
    »Sie kennen es nicht?«
    »Was?«
    »Das Märchen von Rip van Winkle?«
    Nur mit diesem Kniff, nämlich mit dem Feuerzeug in der Hand, das ich nach jedem Verlöschen wieder entzündete, dazu mit der Zigarre in der andern Hand, unablässig im Begriff, die schöne Zigarre endlich anzustecken, ja, einmal schon mit der ersten Glut an der Zigarre, so daß ich bloß hätte ziehen müssen, im letzten Augenblick doch jedesmal wieder verhindert – durch Rip van Winkle, dessen Märchen offensichtlich sogar akuter war

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