Stiller
Verhalten gegenüber dieser Frau, die, glaube ich, viel zu schamhaft gewesen wäre, um sich Drittpersonen anzuvertrauen. Die Leute sahen es einfach mit ihren eigenen Augen. Und das vertrug Stiller schon nicht. Lange Zeit kannten sie ein liebenswertes Ehepaar, er war Veterinär, sie eine anerkannte Kinderärztin, zwei Menschen voll Bildung in einem lebendigen Sinn, voll Herz und Geist, Freunde, denen Stiller vieles verdankte,nicht nur eine Reihe von köstlichen Abendessen, sondern Anregungen aller Art, Einführung in die zürcherische Gesellschaft, einmal sogar einen Auftrag. Stiller fand sie ganz prächtige Menschen, diese Kinderärztin und diesen Veterinär, bis ihm die Frau, die Julika zuweilen unter vier Augen traf, einmal unter vier Augen sagte, was sie sich dachte, nämlich daß Frau Julika ein ganz wunderbarer Mensch sei, ein so feines und im Innersten vornehmes Wesen, wie sie, die Kinderärztin, in ihrem Leben es noch kaum getroffen hatte. Stiller unterbrach sofort: »Und warum sagen Sie das mir?« Sie sagte im Spaß: »Offen gestanden, Stiller, ich frage mich manchmal, womit diese Julika es verdient hat, mit Ihnen verheiratet zu sein!« und sie lächelte, um die Spaßigkeit ihrer Rede deutlich zu machen. Stiller soll nur frostig gewesen sein. »Im Ernst!« fügte sie hinzu und meinte es wirklich nur freundschaftlich, »ich hoffe, daß Sie es begreifen, bevor es zu spät ist, bevor Sie ein Greis sind, Stiller, begreifen, was für eine wunderbare Frau an Ihrer Seite lebt, was für ein wertvoller Mensch, ganz im Ernst, ich hoffe es von ganzem Herzen, Stiller, Ihnen zuliebe!« Aber Stiller, scheint es, vertrug auch den Ernst nicht; es war in einem Restaurant, und Stiller winkte dem Kellner, während die Freundin, die Kinderärztin, weiter über Julika redete, er zahlte, ohne zu der Sache selber ein Wort zu sagen. Und dann war es seine einzige Antwort, daß er fortan, wann immer dieses prächtige Kinderärztin-Veterinär-Ehepaar sie einzuladen wünschte, seinerseits keine Zeit hatte; also die billigste Art von Antwort. Mit Recht wehrte sich Julika und ging dazu über, das Kinderärztin-Veterinär-Ehepaar ihrerseits einzuladen; als dann Stiller nach Hause kam, im Flur draußen hörte, wer in der Wohnung redete, wollte er einfach umkehren. Mit knapper Not konnte Julika diese gesellschaftliche Rüpelei verhindern; Stiller blieb zum Abendessen, dann aber ›mußte‹ er ins Atelier. Er kniff einfach aus. Und manchmal grenzte es wirklich schon an Verfolgungswahn; Stiller bemühte sich wohl, zu ihren Freunden nett zu sein, aber sie spürten natürlich seine Abwehr, seine Unfreiheit. Und dann wunderte sich der gute Stiller, daß es um ihn herum einsamer wurde. Niemand geht gerne zu einem Ehepaar in Krise, versteht sich, es liegt in der Luft, selbst wenn man nichts davon weiß, und der Besucher hat das Gefühl, einem Waffenstillstand beizuwohnen, er kommt sich als Notbrücke vor, er fühlt sich irgendwie mißbraucht, zu einem Zweck eingesetzt, und das Gespräch wird unfrei, der Übermut in vorgerückten Stunden wird gefährlich, plötzlich wird mit Witzen geschossen, die etwas zu scharf sind, etwas vergiftet, der Besucher merkt mehr, alsdie Gastgeber preisgeben wollen; es ist gemütlich wie auf einem Minenfeld, ein solcher Besuch bei einem Ehepaar in Krise, und wenn nichts platzt, so riecht es doch allenthalben nach heißer Beherrschung. Und wenn es auch zutreffen mag, was die Gastgeber sagen, nämlich daß es für sie der netteste Abend seit langem gewesen ist, man kann es verstehen; aber man lechzt nicht nach der nächsten Einladung, und die Hindernisse häufen sich unwillkürlich, in der Tat, man hat kaum noch einen freien Abend. Man bricht nicht mit einem Ehepaar in Krise, gewiß nicht. Man sieht sich nur etwas seltener, und infolgedessen vergißt man das Ehepaar, wenn man selber eine Einladung macht, unwillkürlich, absichtslos. Das kommt davon; Stiller hatte keinen Grund, sich zu verwundern, so wie er sich zu allen wohlmeinenden Leuten verhielt. Zum Glück, kann man nur sagen, hatte Julika wenigstens ihre Freunde im Ballett, vor allem jedoch die Arbeit selbst. Auf der Bühne, in den Fluten der Scheinwerfer, war sie frei von allem, ein andrer Mensch, ein glücklicher Mensch, die Beglückung in Person. Auch in die Proben kam Stiller nicht mehr. Er verkroch sich in seine Arbeit. Und es half auch nichts, als der Mann ihrer Freundin, der Veterinär, eines Morgens in sein Atelier ging, um mit Stiller zu sprechen, Mann zu
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