Stiller
gleichsam zusammenzog auf einen einzigen Punkt, wie so ein kleiner und argloser und jedenfalls durchaus sachlicher Ausspruch in seiner Erinnerung zu hallen anfing, alles andere überdröhnte. Und gerade dann, wenn Julika sich besonderer Zärtlichkeit befliß, erschreckte ihn wieder, was vor vielen Jahren einmal aus ihrem Mund gekommen war. Stiller kam sich als der Besudelnde vor. Er tat, als ekelte sich Julika vor ihm, und wies sie zurück, wie gesagt, gerade dann, wenn Julika sich besonderer Zärtlichkeit befliß; er entzog sich. Stiller soll ein sportlicher Schwimmer gewesen sein; einige Jahre lang schwamm er jeden Tag einmal über den See und zurück, gleichviel ob es regnete oder nicht, oft noch im Oktober: er kasteite sich. Julika nannte es seinen Tick, diese Sportlerei. Stiller brauchte sie, um sich wohl zu fühlen. Er brauchte einen See voll Wasser, scheint es. Es war ihm furchtbar, wenn er schwitzte. Und in Gesellschaft etwa, wenn er schwitzte oder spürte, daß es soweit kommen könnte, verlor er jeglichen Humor, saß dann in stummer Bestürztheit, unfähig, auch nur einem Gespräch zu folgen. Stiller hatte dann eine solche Angst in den Augen, daß es Julika oft rührte. Oft bildete er sich ein, er hätte einen Ausschlag. Meistens war es bloße Einbildung. Dann wieder schwärmte er von einer fremden Dame, die ihn, oben auf dem Gipfel des Piz Palü, auf sein schwitzendes Gesicht geküßt hätte, das war für ihn der Piz Palü, unvergeßlich, einmalig, grandios. Sein Zerwürfnis mit dem Körper, scheint es, betraf nur seinen eigenen. Stiller schwärmte von den Kindern im Strandbad, von der Haut der Kinder, und auch die menschlichen Körper im Ballett, zum Beispiel, begeisterten ihn immer wieder. Seine Begeisterung hatte etwas Schmerzliches, etwas von der hoffnungslosen Sehnsüchtigkeit eines Verkrüppelten. Stiller war schon ein Mann über dreißig; aber wenn eine Frau einmal ihre Hand (ohne Handschuh) auf seine Hand legte, ohne sie sogleich wieder zurückzuziehen, oder das fahle Haar nicht nur aus seiner Stirne strich, um ihn ordentlich zu machen, sondern um sein Haar zu fühlen, um seine schmale Stirne zu fühlen, war er irritiert wie ein Knabe, dadurch für mancheDamen besonders anziehend. Er war wohl, wie man sagt, ein Mann mit Chancen, ohne sich seine Chancen zu glauben. Und das irritierte Stiller wohl am meisten, nicht die sogenannte Chance, sondern die Angst, daß man ihn ja bloß zum Narren hielte; er war mißtrauisch, unsicher, nicht bereit zu glauben, daß eine Frau, die ihre Hand auf die seine legte, frei wäre von Ekel. Es ist anzunehmen, daß dieser unselige Mensch nicht oft, aber ab und zu, irgendwann einmal nach der täglichen Dusche, die doch nur für den Augenblick reinigte, vor den Spiegel trat, um zu sehen, was Julika, seine kristallene Fee, abstoßen mußte, und siehe da, Stiller entdeckte eigentlich nichts, was ihn nicht selber abstieß. Stiller fand Männer sehr schön, er zeichnete sie ohne Unterlaß; Frauen auch. Nur er selbst, Stiller mit Namen, hatte das Pech, in einem männlichen Körper zu wohnen, der sein Liebstes beschmutzte; das hatte ihm Julika, dieser ehrliche Mensch, ja so offen ausgesprochen, so arglos, so sachlich und schlimm nur dadurch, daß es ihre einzige Aussage geblieben war ... Kurzum, Stiller hatte wohl wirklich einen Tick, und die arme Julika, ihrerseits ein ungewöhnlich zartes Wesen, scheu von Natur und von mädchenhafter Verhaltenheit im Wort, wehrlos gegen Auslegungen, die einfach ihr wahres Wesen verkannten, hatte es sicherlich nicht leicht mit ihrem neurotischen Gemahl. Das fanden offenbar auch andere Leute, nämlich daß Stiller ihr wahres Wesen verkannte, und es fehlte nicht an Freunden, die Stiller warnten, dafür aber nur Undank ernteten. Stiller vertrug es nicht. Ach, sagte er nach einem solchen Gespräch, der Teufel hole die Menschen, die sich in eine Ehe einmischen, nur weil sie meinen, daß sie es wohlmeinen und daß es genüge, wenn sie es wohlmeinen, ohne auch nur ein Drittel der Geschichte zu kennen, worin sie es wohlmeinen! Und damit war das beste Freundeswort für ihn erledigt; Stiller wußte alles besser. Man sagte ihm, daß die arme Julika ihn nicht nur liebte, sondern ihn mehr liebte, als er es verdiente, und Stiller antwortete höchstens: Sehr gut, daß Sie mir das sagen! Aber in Wahrheit fiel es ihm nicht ein, sich etwas zu Herzen zu nehmen. Sein Verdacht, daß Julika ihre gemeinsamen Bekannten aufhetzte, war ungerecht wie so vieles in seinem
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