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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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immerzu als Opfer sieht, meine ich, kommt sich selbst nie auf die Schliche, und das ist nicht gesund. Ursache und Wirkung sind nie in zwei Personen getrennt, schon gar nicht in Mann und Frau, selbst wenn es zuweilen so aussehen mag, Julika, weil die Frau scheinbar nicht handelt. Es fällt mir nur auf: eigentlich alles, was Sie tun oder nicht tun, begründen Sie mit etwas, was beispielsweise Ihr Mann nicht getan oder getan hat. Das ist doch, entschuldigen Sie das Wort, infantil. Wozu sage ich das! Sie wissen es selber ganz genau, Julika, daß es nicht so ist, nirgends in der ganzen Weltgeschichte, und Sie müssen mich nicht an der Nase herumführen, nur weil ich der Jüngere bin, eigentlich ein Bub. Eine solche Manier, das Leben zu betrachten, ist auf die Dauer langweilig auch für Sie, Julika –« Fortan foppte sie ihn ein wenig: Mein Weiser! nannte sie ihn, und das vertrug er nun wieder nicht. Zwei- oder dreimal blieb er aus, nur weil Julika sich Einmischungen verbitten mußte, Einmischungen in Lebensfragen, die der junge Mensch, wie pfiffig er nun auch sein mochte, einfach nicht aus Erfahrung kannte, Dinge der Ehe beispielsweise, insbesondere aber einer Ehe mit Stiller, den er nie auch nur von Angesicht gesehen hatte, kurzum, sie verwies ihn auf seine Kirchenväter und auf die Relativitätstheorie, und so wurde leider (sagt Julika) auch daraus keine wirkliche Begegnung. Zwar kam der junge Mensch weiterhin, saß am Fußende ihres Bettes, plauderte witzig, übermütig, immer ausgelassener, je näher sein Tod kam, den er gerade in jenem milden September keineswegs erwartete. Julika konnte es einfach nicht glauben, als nebenan das Zimmer so leise wie möglich ausgeräumt wurde. Sie hatten Julika netterweise eine Schlafpille gegeben, die sie ausgespien hatte. Eine ganze Nacht reinigten sie mit Dämpfen das Zimmer. Julika war fassungslos. So hatte Julika den Tod hier nicht erwartet, so beiläufig und unsichtbar, so lautlos, so glimpflich-jäh und ohne Vorboten, so unfair, so wie das zufällige Auslöschen einer Nachttischlampe, wenn man gerade liest. Und in der Tat, man redete einfach nicht mehr von ihm. Schwester und Oberarzt übergingen Julikas wiederholte Fragen, als hätte ihr Nachbar, der junge Jesuit mit den großen Augen und dem immer etwas pfiffigen Gesicht, etwas Unanständiges begangen. Alles übrige ging weiter, das Bähnchen pfiff im Tal, Zeitungen kamen. Ein paar Tage später hörte Julika, als sie wie gewöhnlich in ihrer stillen Veranda lag, irgendwie noch immer seinen täglichen Besuch erwartend, das trockene Hüsteln ihres neuen Nachbarn. Es war ein blauer Septembertag. Es graute ihr.
    – – –
    Julika kam bis Landquart, bis zu jener Station, wo man umzusteigen hat, und alles erledigte sich, als wäre es keine Flucht, nur eben eine gewöhnliche Reise; niemand hielt Julika an, niemand musterte sie oder wenigstens nicht mehr, als sie Julika ihres schönen Haares wegen immer musterten. Ein kurzer Halt in Klosters, etwa auf dem halben Weg, dünkte sie endlos, wie es eben jedem Flüchtling, wenn einmal eine Barriere geschlossen ist, als Ewigkeit erscheinen mag, vier Minuten warten zu müssen. Julika verbarg sich hinter einer Zeitung, jeder aber, der auch nur durch ihr Abteil zweiter Klasse ging, erschreckte sie. Noch immer blieb das Bähnchen stehen; was machten sie denn nur so lange? Julika konnte es nicht fassen, daß niemand sie erkannte, niemand auf ihre Schulter klopfte und sagte: Was soll das, meine liebe Julika, was soll das? Nicht eingeweiht in die Geheimnisse des Eisenbahnwesens, konnte die arme Julika diese Warterei nur so verstehen: man suchte sie, Anruf vom Sanatorium, jemand ging jetzt von Wagen zu Wagen, um die Unselige zu haschen. Julika zog, wie Schlafende in der Bahn es machen, ihren hangenden Mantel übers Gesicht. Jemand setzte sich ihr gegenüber, ein Mann; sie sah es an den Schuhen. Ihr Oberarzt? Im Geiste sah sie schon ein mitleidiges Lächeln, sein ebenso freundliches wie unerbittliches: Frau Julika, Frau Julika, das lassen wir wohl lieber! Endlich, als das Bähnchen zu rollen anfing, mußte Julika es wissen, wer nun wirklich ihr Häscher war, schob ihren tarnenden Mantel etwas zur Seite, tat, als müßte sie jetzt unbedingt die Gegend sehen. Es war ein deutscher Herr, der, kaum gewahrte er Julikas rotes Haar, aufs höflichste seine Zigarre aus dem Mund nahm, sich erkundigte, ob sein Rauch sie vielleicht störte. Hielt er Julika für eine Lungenkranke? Aber bitte sehr, mein Herr,

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