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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Schminkwatte wegwerfen, würden sie fragen: Bist du heute in der Vorstellung gewesen? Sie sind Komödianten, wollen nichts anderes sein, Darsteller, können nichts anderes sein dank ihrer Begabung. War Julika denn so anders gewesen? Sie spürte es mit Traurigkeit, daß es sozusagen nur ihr eigenes Selbst war, was sie jetzt im Stiche ließ ... Einmal war einer gekommen, ein Kollege vom Ballett, um zwanzig Minuten in ihrer Veranda zu stehen, allerlei Schnurren zu erzählen, Vorkommnisse während der letzten Festspiele, die nun für Julika ungefähr so unerreichbar waren wie die Wagenrennen der Antike. Auch der faßte Julika mit beiden Händen, Blick wie in der Tragödie, aber empfunden, kein Zweifel. Es war ihm ein Pneu geplatzt, so daß er seinen Volkswagen (Julika wußte noch nicht, daß er jetzt auch einen Volkswagen hatte?) in die Garage hatte bringen müssen, daher sein Zwischenhalt in Davos, und da er am selben Tag noch in der Stadt sein mußte, blieb ihm leider wenig Zeit, leider, leider, doch fand er, Julika sähe großartig aus, besser als je. Die verfluchte Staubluft im Theater, ja, ja, daß die Direktion dagegen nichts unternimmt; überhaupt die Direktion! Er verabschiedete sich, schon zehn Minuten verspätet, mit einer munteren Zuversicht, daß Julika demnächst genesen würde, und voll ebenso munterer Vorfreude, allen ihren Kollegen melden zu können, daß Julika sie alle grüßen ließe. Julika sank in ihre Kissen. Aber kaum im Freien draußen, pfiff er nochmals herauf, der rührende Kollege mit dem Volkswagen, um zu winken; Julika winkte auch. Doch in jener Minute, sie erinnert sich noch heute sehr genau daran, war ihr, als verabschiedete sie sich von einer ganzen Welt, die allerdings keine war, von ihrer eigenenWelt mit den bläulichen Lichtfluten des Scheinwerfers, die sie, Julika, gleichsam über der Erdenschwere zu tragen nicht mehr vermochten ...
    Julika war sehr einsam.
    Ein bisher unbekanntes und verwirrendes Verlangen nach dem Mann, je mehr sie ihren grazilen Körper verbrennen fühlte wie Zunder, eine Begierde, die sich zumindest in Träumen nicht verscheuchen ließ, und dazu das stete Bewußtsein, daß Stiller in diesen gleichen Nächten sie betrog, all dies zwang die arme Julika zu Briefen, die nicht abzuschicken waren, nein, unter keinen Umständen. Sie träumte ja auch gar nicht von Stiller, genau genommen, sondern von Oberärzten, Bäckerburschen und Männern, die Julika nie gesehen hatte. Der junge Sanatoriums-Veteran mit dem immer etwas pfiffigen Gesicht behandelte Julika wie eine Nonne, nicht einmal wie eine Nonne, sondern wie ein Neutrum, wennschon er täglich am Fußende ihres schmalen Bettes saß, so, daß ihre Füße doch seine Wärme spürten. Keinerlei noch so verhaltene Zärtlichkeit unterlief ihm. Er schob Julika, da sie darum bat, ihre Kissen zurecht, ohne sie auch nur aus Versehen zu berühren. Dafür redete er zu Julika über Eros, genau so heiter-sachlich wie über Kommunismus, wie über Thomas von Aquin oder Einstein oder Bernanos, genau so über Eros, wobei es ja doch eine Offenheit gibt, die nur möglich ist, wenn keinerlei Möglichkeit lebendiger Anwendung besteht. Julika wußte nicht, was sagen. In diesem Ton also redete der junge Mann über das gar wunderliche Phänomen des Eros, dem er, Julika zum Erstaunen, eine ganz gewaltige Bedeutung beimaß. Aber mehr als ihre Hand, zum Gruß oder Abschied, berührte er nicht. War Julika denn eine Aussätzige! Dafür war dieser gleiche Mensch mit allen seinen verblüffenden Kenntnissen sich nicht zu gut, um mit einer Person, die in der Wiese droben Matratzen klopfte, zu schäkern, geradezu schamlos zu schäkern. Julika begriff ihn nicht. Überhaupt kam es noch kurz vor seinem Tod zu einer schmerzlichen Entfremdung, die Julika nicht gern erwähnt. Der junge Sanatoriums-Veteran hatte sich wohl etwas verstiegen mit einer Bemerkung, Julika müßte doch einmal aufhören, ihr eigenes Verhalten gegenüber ihrem Mann und überhaupt gegenüber Menschen nur als Reaktion zu sehen, sich selbst nie als Initiantin zu begreifen, also sich in einer infantilen Unschuld zu baden. Das war ja wohl stark! Julika begriff ihn übrigens nicht ganz. Er mußte es erläutern, was er ungern tat.
    »Nun ja –«, lächelte er, »ich habe nur das Gefühl, meine liebe und verehrte Julika, Sie wollen nicht erwachsen werden, nicht verantwortlich werden für Ihr eigenes Leben, und das ist schade.«
    »Also wie meinen Sie das?« fragte sie.
    »Wer sich selbst nur

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