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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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plötzlich: Ich werde nie wiederherauskommen. Ich sagte: Unsinn, Unsinn. Nach einem ersten und einem zweiten Versuch, Jim anzuseilen – er hatte eine irre Angst, ich würde nur vorausklettern, um mich oben von dem Seil zu lösen, eine vielleicht begreifliche Angst –, waren wir nicht nur beide erschöpft, sondern auch beide verwundet. Ich hatte eine Schramme an der Stirn. Ich weiß nicht, ob Jim aus Angst, daß ich mich von dem Seil lösen würde, plötzlich gezogen hatte oder ob er auf dem glasigen Tropfsteinen ausgerutscht war, zumal er ja nur auf einem Fuß stehen konnte; der Ruck hatte jedenfalls genügt, mich in die Tiefe zu holen. Er bestritt jegliche Absicht. Schlimmer als die Schramme, deren Blut mir über das linke Auge rann, waren die aufgerissenen Hände. Ich war vollkommen verzweifelt. Jim sagte: Unsinn, Unsinn. Seine Zuversicht machte mich nur mißtrauisch, über alle Erschöpfung hinaus wach wie ein lauerndes Tier, während Jim meine Hände verband, dafür sogar den Ärmel seines eigenen Hemdes opferte. Er war rührend; aber was half es! Einer von beiden, in der Tat, war immer sehr rührend, einmal Jim, einmal ich. Es war wie eine Schaukel. Unterdessen verging die Zeit. Als ich wieder einmal in diese fürchterliche Stille hinein fragte: Wie spät ist es jetzt? weigerte sich Jim, die Uhr zu zeigen, was ich als Zeichen nahm dafür, daß wir uns im offenen Kampf befanden; Hilfe hin, Hilfe her. Jim sagte: Warum belauerst du mich so? Ich sagte das gleiche zu ihm. Einmal, als ich ihn eine Weile lang nicht belauerte, hatte er begonnen, insgeheim von seinem letzten Hammelfleisch zu fressen. Was man im Magen hat, so dachte er wohl, kann uns der andere nicht entreißen, und in der Tat, nach und nach kam ja die Stunde, wo das Hammelfleisch in unseren Taschen gerade noch für einen reichte, für den Stärkeren. Ein gebrochener Fuß, nun ja, und zwei aufgerissene Hände, was war es schon, Schmerzen; doch zuletzt kann man auch mit Schmerzen klettern, es jedenfalls versuchen, ob man nicht allein, sofern man noch bei Kräften ist, ans Tageslicht gelangt, ans Leben. Aber eben: das mußte geschehen, solange man noch bei Kräften war, Brennstoff hatte, wenigstens für eine Laterne. Jim fragte: Was hast du im Sinn? Ich fragte: Worauf warten wir? Meinerseits, allem Hunger zum Trotz, sparte ich mein Hammelfleisch, eine Taktik, die mich vielleicht instand setzte, seine Erschöpfung durch Hunger abzuwarten und dann der Stärkere zu sein, während jetzt, fürchtete ich, Jim mit seinem Hammelfleisch im Magen wohl besser bei Kräften war; eine Taktik, die mich anderseits zwang, unter keinen Umständen einzuschlafen, sonst war ich ausgeplündert und der Verlorene. So,ich weiß nicht wie viele Stunden lang, hielten wir einander in Schach, plaudernd über unsere Pläne da oben auf der grünen Erde; Jim lockte die Stadt, vor allem Neuyork und die Weiber, die er in unserer Ranch so lange vermißt hatte, und mich lockte (in jenen Stunden) das Leben eines Gärtners, wenn möglich in einer fruchtbaren Gegend. Was hatten wir bloß in dieser gottverlassenen Finsternis zu suchen! Nach wie vor brannten unsere beiden Laternen; Jim hatte recht: Es ist eine Verschwendung, eine idiotische Verschwendung. Warum löschte er nicht die seine? Weil er mir mißtraute, weil er es, obzwar er wieder und wieder von unserer Freundschaft redete, für durchaus möglich hielt, daß ich ihn, meinen einzigen Freund damals, der tödlichen Finsternis überließe. Ich erkundigte mich nach dem Stand seiner Schmerzen, seines Hungers, seines Durstes. Jim! sagte er zu mir – nämlich in jener Zeit nannte ich mich ebenfalls Jim, was ja in Amerika ein Allerweltsname ist – Jim! sagte er: Wir dürfen einander nicht im Stich lassen, verstehst du, wir müssen vernünftig sein. Ich sagte: Dann lösche deine Laterne! Er sagte: Wir haben keine Zeit, Jim, wir müssen aufbrechen, wir müssen es versuchen. Nach fünf Stunden, schätzungsweise, hatten wir die nächste Kaverne erlangt, jedoch in einem Zustand der Erschöpfung, so daß wir uns hinlegen mußten. Meine Futtertasche mit dem letzten Hammelfleisch nahm ich unter mein Gesicht, ihren Riemen um meine rechte Hand, damit ich erwachte, wenn Jim sich an meinem Hammelfleisch vergreifen sollte. Als ich erwachte, hatte er meine Laterne zerschlagen, wie er sagte, um dieser idiotischen Verschwendung ein Ende zu machen. Zugleich bat er mich um die Hälfte meines letzten Hammelfleisches; er jammerte: Du kannst mich doch nicht

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